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Erlass Kaiser Wilhelms II. zur Reform des Schulunterrichts als Mittel zum Kampf gegen den Sozialismus (1. Mai 1889)

Dieser kaiserliche Erlass wurde von Wilhelm II. nicht einmal ein Jahr nach seinem Regierungsantritt als deutscher Kaiser herausgegeben. Er postuliert die politische Erziehung von Volksschülern und die Einbeziehung zeitgenössischer politischer Themen in den Lehrplan. Im Allgemeinen wünschten die Behörden im deutschen Kaiserreich nicht, dass Schüler politische Fragen diskutierten: Sie sollten vielmehr lernen und den Lehren des Staates Gehorsam leisten. Der Aufstieg der Sozialdemokratie in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten hatte jedoch den jungen Kaiser davon überzeugt, dass die Sozialisten solch gefährliche Staatsfeinde waren, dass selbst den jüngsten Deutschen beigebracht werden musste, sie und ihre „verderblichen“ Lehren zu fürchten. Die Arbeiter, so legt er hier nahe, müssten der Wohltätigkeit des Monarchen vertrauen lernen. Beachtenswert ist, dass das Dekret am 1. Mai erlassen wurde – dem Tag der internationalen sozialistischen Solidarität, der erstmals 1889 zum Gedenken an die Haymarket-Unruhen in Chicago vom 4. Mai 1886 begangen wurde.

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Schon längere Zeit hat Mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken. In erster Linie wird die Schule durch Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben. Aber Ich kann Mich der Erkenntnis nicht verschließen, daß in einer Zeit, in welcher die sozialdemokratischen Irrtümer und Entstellungen mit vermehrtem Eifer verbreitet werden, die Schule zur Förderung der Erkenntnis dessen, was wahr, was wirklich und was in der Welt möglich ist, erhöhte Anstrengungen zu machen hat. Sie muß bestrebt sein, schon der Jugend die Ueberzeugung zu verschaffen, daß die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur den göttlichen Geboten und der christlichen Sittenlehre widersprechen, sondern in der Wirklichkeit unausführbar und in ihren Konsequenzen dem Einzelnen und dem Ganzen gleich verderblich sind. Sie muß die neue und die neueste Zeitgeschichte mehr als bisher in den Kreis der Unterrichtsgegenstände ziehen und nachweisen, daß die Staatsgewalt allein dem Einzelnen seine Familie, seine Freiheit, seine Rechte schützen kann, und der Jugend zum Bewußtsein bringen, wie Preußens Könige bemüht gewesen sind, in fortschreitender Entwickelung die Lebensbedingungen der Arbeiter zu heben, von den gesetzlichen Reformen Friedrichs des Großen und von Aufhebung der Leibeigenschaft an bis heut. Sie muß ferner durch statistische Thatsachen nachweisen, wie wesentlich und wie konstant in diesem Jahrhundert die Lohn- und Lebensverhältnisse der arbeitenden Klassen unter diesem monarchischen Schutze sich verbessert haben.

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Die vaterländische Geschichte wird insonderheit auch die Geschichte unserer sozialen und wirtschaftlichen Gesetzgebung und Entwickelung seit dem Beginne dieses Jahrhunderts bis zu der gegenwärtigen sozialpolitischen Gesetzgebung zu behandeln haben, um zu zeigen, wie die Monarchen Preußens es von jeher als ihre besondere Aufgabe betrachtet haben, der auf die Arbeit ihrer Hände angewiesenen Bevölkerung den landesväterlichen Schutz angedeihen zu lassen und ihr leibliches und geistliches Wohl zu heben, und wie auch in Zukunft die Arbeiter Gerechtigkeit und Sicherheit ihres Erwerbes nur unter dem Schutze und der Fürsorge des Königs an der Spitze eines geordneten Staates zu erwarten haben. Insbesondere vom Standpunkt der Nützlichkeit, durch Darlegung einschlagender praktischer Verhältnisse, wird schon der Jugend klar gemacht werden können, daß ein geordnetes Staatswesen mit einer sicheren monarchischen Leitung die unerläßliche Vorbedingung für den Schutz und das Gedeihen des Einzelnen in seiner rechtlichen und wirtschaftlichen Existenz ist, daß dagegen die Lehren der Sozialdemokratie praktisch nicht ausführbar sind, und wenn sie es wären, die Freiheit des Einzelnen bis in seine Häuslichkeit hinein einem unerträglichen Zwange unterworfen würde.



Quelle: Kaiserlicher Erlaß vom 1. Mai 1889, Europäischer Geschichtskalender, Hg. H. Schulthess, 1890, S. 166.

Deutscher Originaltext veröffentlicht in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hg., Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914. Dokumente und Skizzen, 3. Aufl. München: Beck, 1982, S. 333-34.

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