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Martin Lövinson erinnert sich an die Judenemanzipation und die Begeisterung für die deutschen Einigungskriege (frühe 1870er Jahre)

Dr. Martin Lövinson (1859-1930) war Justizrat und Sohn des wohlhabenden Danziger Kaufmanns, Siegfried Lövinson, der 1858 eine Fabrik für geschnitzte Eichenmöbel in Berlin gegründet hatte. Die Familie zog 1865 in den außerhalb der Stadt gelegenen Vorort Charlottenburg um, wo sie in ihrem Haus eine orthodoxe Synagoge einrichteten. In dieser Textpassage aus seinen Lebenserinnerungen (1924 veröffentlicht) beschreibt Martin Lövinson die tägliche Einhaltung der religiösen Regeln in seiner Kindheit und seine Reaktion auf die nationalen Ereignisse von 1864 bis 1871. Als Mitglieder des wohlhabenden Bürgertums begrüßten die Familienangehörigen die rechtliche Emanzipation der Juden 1869 und die deutsche Reichseinigung 1871.

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Meine Eltern führten einen streng rituell jüdischen Haushalt. Wenn auch mein Vater am Sabbat sein Geschäft geöffnet hielt und das Fahren nicht vermied, so hat er doch stets, solange ich denken kann, des Morgens sein vorgeschriebenes Gebet verrichtet, wobei mir nur später auffiel, daß er die Tefillin (Gebetriemen) nicht anlegte. Die Arba Kanfot (Schaufäden) dagegen hat er unter der Unterjacke auf dem bloßen Körper getragen.* Daß am Sabbat und den hohen Feiertagen bei uns gekocht wurde, hörte ich der Großmutter Hirschberg gegenüber mit der Rücksicht auf die kleinen Kinder erklären; dagegen hat sie selber auch in dieser Hinsicht die alten Ritualgesetze streng beobachtet. Wir brachten jeden Freitag ihr Gericht Schalent** zu dem Mazze-Ofen nach der Heidereutergasse, der alten sogenannten Großen Synagoge gegenüber, und holten ihn am Sonnabend mittag nach Schluß des Hauptgottesdienstes, schön durchgebacken und noch warm, auch wieder ab. Auch der freigeistige Großvater Lövinson hat die gelegentliche Einladung der lieben Großmutter zu dem leckeren Mahle nicht verschmäht. In der Synagoge habe ich ihn an den allerhöchsten Feiertagen, wenn ich schon jung von den Eltern mitgenommen wurde, wohl auch gesehen; sonst hat er sich von dem alten Herkommen aber ganz emanzipiert.

Das heutige System der Plätze-Vermietung bestand damals noch nicht; wer nicht einen Eigentumsplatz hatte, nahm beim Gottesdienst unbehelligt irgendeinen leeren Platz ein, zumal der Eintritt in das Gotteshaus in keiner Weise beschränkt, eher wohl gefördert wurde. So bin ich in jener fernen Vergangenheit, sobald ich nur laufen konnte, sehr oft in die genannte alte Synagoge mitgenommen worden, wohin die Großmutter regelmäßig, die Mutter, sooft es ihr die Sorge für die Kleinen erlaubte, und die Männer der Familie an Hauptfeiertagen gingen. Eine Orgel ist noch heute aus diesem alten Gotteshause verbannt; aber der feierliche Gesang des Chors, des gefeierten Vorbeters Lichtenstein und der Gemeinde, sowie die Predigten des sehr beliebten gemütvollen Rabbiners Dr. Sachs haben auf mein kindliches Gemüt einen unauslöschlichen Eindruck gemacht, den ich aus meinem Leben nicht fortdenken kann, wenn ich auch weder den deutschen noch den hebräischen Vortrag verstanden habe. Um so früher wurde – und das war wohl der pädagogische Zweck meines Vaters – der Wunsch nach dem Verständnis dieser schönen, über den Alltag erhebenden Gebräuche in mir erweckt. Von den Wohlfahrtseinrichtungen der jüdischen Gemeinde habe ich dagegen in der damaligen Zeit nur die Altersversorgungsanstalt in der Großen Hamburgerstraße kennengelernt; dort besuchten wir von Zeit zu Zeit mit kleinen Aufmerksamkeiten ein altes Fräulein Emma Sachs, die irgendwie mit der Großmutter verwandt gewesen sein muß, und die, wie mir dunkel vorschwebt, dort mit einer noch älteren Schwester ihre letzten Tage und Jahre zubrachte. So hielten unsere Eltern darauf, in uns die Liebe zur angestammten Religion und den Gedanken zu erwecken, daß Religion gelebt und erlebt, aber nicht erdacht oder errechnet wird.

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* Arba Kanfot ist ein von Orthodoxen getragenes Untergewand mit vier gedrehten Schnüren (Zizit) an den Enden, wie sie in Deut. 22,12 zu tragen vorgeschrieben werden.
** Sabbatspeise, die am Vortag bereitet werden muß, da am Sabbat Kochen als Arbeit verboten ist.

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