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Theodor Fontane zu Deutschlands geschichtlichen Epochen und dem Niedergang der Aristokratie: Der Stechlin (1899)

Theodor Fontane (1819-1898) wird von vielen als der bedeutendste und am nachhaltigsten rezipierte deutschsprachige Schriftsteller des Realismus im 19. Jahrhundert betrachtet. Fontanes Roman Der Stechlin wurde 1899 veröffentlicht, ein Jahr nach seinem Tod. Dieser Roman ist buchstäblich und im übertragenen Sinne Fontanes Testament – was bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, dass nach seiner eigenen Aussage nichts Außergewöhnliches in diesem Roman passiert. Am Ende stirbt ein alter Mensch und zwei junge heiraten. Es ist nicht die Handlung, die den Roman besonders macht, sondern die Gespräche, geprägt vom Fluss und der Leichtigkeit, die als Markenzeichen Fontanes gelten. Die folgende Textpassage enthält eine solche Unterhaltung zwischen Pastor Lorenzen und Melusine. Lorenzen benennt das zentrale Thema des Romans, wenn er erklärt, „Der Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte besteht darin, daß die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden Platz gestellt werden.“ Fontane ist sich lebhaft dessen bewusst, dass das Deutsche Reich bereits ein moderner Industriestaat geworden ist, in dem die verknöcherten Werte des Adels durch den Anspruch der Bürger- und Arbeiterklasse auf wirtschaftliche, kulturelle und politische Vormachtstellung in Frage gestellt werden. Lorenzen ist ein protestantischer Geistlicher, doch er ist jung und liberal und repräsentiert die moderne Welt. Der bescheidene, nüchterne preußische Junker Dubslav von Stechlin verkörpert die alte Welt, während Melusine – eine von Fontanes rätselhaftesten Frauenfiguren – als eine Art Orakel in dem Werk steht.

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Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Werdende, denn eben dies Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben. Und vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nie vergessen. Sich abschließen, heißt sich einmauern, und sich einmauern ist Tod. Es kommt darauf an, daß wir gerade das beständig gegenwärtig haben. [ . . . ]

»Daß ich Ihnen sagen könnte, wie freudig ich in Ihren Dienst trete, gnädigste Gräfin. Und ich kann es um so leichter, als Ihre Ideale, wie Sie wissen, auch die meinigen sind. Ich lebe darin und empfind' es als eine Gnade, da, wo das Alte versagt, ganz in einem Neuen aufzugehn. Um ein solches ›Neues‹ handelt es sich. Ob ein solches ›Neues‹ sein soll (weil es sein muß) oder ob es nicht sein soll, um diese Frage dreht sich alles. Es gibt hier um uns her eine große Zahl vorzüglicher Leute, die ganz ernsthaft glauben, das uns Überlieferte – das Kirchliche voran (leider nicht das Christliche) – müsse verteidigt werden wie der salomonische Tempel. In unserer Obersphäre herrscht außerdem eine naive Neigung, alles ›Preußische‹ für eine höhere Kulturform zu halten.«

»Genau wie Sie sagen. Aber ich möchte doch, um der Gerechtigkeit willen, die Frage stellen dürfen, ob dieser naive Glaube nicht eine gewisse Berechtigung hat?«

»Er hatte sie mal. Aber das liegt zurück. Und kann nicht anders sein. Der Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte besteht darin, daß die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden Platz gestellt werden. Sie haben jetzt die Freiheit, ihre Fähigkeiten nach allen Seiten hin und auf jedem Gebiete zu betätigen. Früher war man dreihundert Jahre lang ein Schloßherr oder ein Leinenweber; jetzt kann jeder Leinenweber eines Tages ein Schloßherr sein.«

»Und beinah auch umgekehrt«, lachte Melusine. »Doch lassen wir dies heikle Thema. Viel, viel lieber hör' ich ein Wort von Ihnen über den Wert unsrer Lebens- und Gesellschaftsformen, über unsre Gesamtanschauungsweise, deren besondere Zulässigkeit Sie, wie mir scheint, so nachdrücklich anzweifeln.«

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