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Der Fall der Mauer (9. November 1989)

TAZ-Journalisten beschreiben die Aufregung, als sich die Mauer am 9. November 1989 plötzlich durch den Druck der ostdeutschen Bevölkerung öffnete. Das Ereignis wurde von Menschen, die nun die Grenze frei passieren und ihre Freunde und Verwandten auf der anderen Seite wieder treffen konnten, spontan gefeiert.

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»Wir wollen rein!«
An der Grenze tanzt der Bär


Der RIAS – ost-sendebeauftragter amerikanischer Rundfunksender – meldet um Mitternacht immer noch keine Verkehrsstörungen. Doch am Grenzübergang Invalidenstraße herrscht schon das totale Chaos. Quer geparkt, ausgestiegen, zur Grenze gerannt. Der Richtfunksendemast des Senders Freies Berlin steht schon mitten im Menschengewühl (West) – Warten auf den Durchbruch der Massen (Ost). Nach drei Sekunden klatscht auch schon der hartgesottenste taz-Redakteur dem erstbesten Trabi zu. Der Taumel erwischt jede, ob sie will oder nicht. Auch die Nüchternsten klatschen, kreischen, stöhnen, kichern. Einige schaffen es, unter den Augen der Grenzer Richtung Osten über verschiedene Absperrschranken zu klettern. Aber ganz rüber geht jetzt noch nicht, noch gelten Visumpflicht und Zwangsumtausch.

Auf halber Strecke zwischen Ost und West stehen die DDRler brav Schlange, warten, bis sie aufgerufen werden. Stempel: »Sie können gehen.« »Was denn, das glaub' ich nicht.« Manche müssen in den Westen geschoben werden: »Ich soll jetzt rüber. Aber wohin? Ich habe ja keinen Pfennig in der Tasche.« Viele haben immer noch Angst, daß sie nicht zurück können.

Indessen brüllt's aus dem Westen: »Wir wollen rein!« Für einen Moment wendet sich das Interesse westwärts: Momper ist in der Masse zu erkennen. Blitzlichter, Mikrophone, Kameras. Dann gibt es kein Halten mehr, der Westpulk schiebt sich weiter gen Osten. Ungefähr um ein Uhr fangen sie an zu rennen. Eine Handvoll Grenzer grenzt ihre Grenze ab. Tore auf, Schlagbaum hoch. Hier ist Osten. Westler, illegal und ohne Ausweis im Bezirk Mitte, immer noch bereit, im Notfall sofort die Hände hochzunehmen. Doch jenseits der Grenze beginnt das Verwirrspiel, wer ist Ost, wer ist West? Die drängenden Gruppen auf dem Bürgersteig längs der Invalidenstraße bewegen sich in beide Richtungen. Erstaunen in den Gesichtern: Kommt ihr von drüben? Wollt ihr rüber? Grüne Leuchtreklame, die erste Kneipe auf dem Weg, wo ist das nächste Klo? Das »Jägerheim« hat schon geschlossen, die Sperrstunde war um Mitternacht. Entlang den Schaufensterauslagen mit Gemüsekonserven und Apfelsteigen sprudeln die Visionen: »Da werden bald die Bananen liegen mit Ananas obendrauf. Und die Zeit der Quarzuhren ist auch hier jetzt vorbei.«


»Wir sind über die Mauer geklettert«

»Zum Kudamm!« ruft's am Übergang Friedrichstraße. Mit Sektflaschen in der Hand drängeln sich die Leute zur Paßkontrolle, im Abseits stehen erstreckt bepackte Polen. Weiter zum Brandenburger Tor, Unter den Linden kaum Autos, wenige Passanten. Hier ist kein Grenzübergang, nur Mauer. An der ersten Blumenkübelabsperrung vor dem Tor ein französisches Kamerateam, westliche Journalisten, östliche Familien. Eine Frau weint um ihren Sohn, der eine Hürde weiter ist. Der Sohn kommt zurück, will sie holen, sie hat Angst: »Ich will doch gar nicht rüber.« Am nächsten Morgen sehen wir sie dann im Fernsehen wieder: »Wir waren drüben, wir sind über die Mauer geklettert.«

Doch jetzt gegen halb zwei ziehen sich Soldaten der Volksarmee zusammen, schwer bewaffnet, gar nicht in Partystimmung. Dennoch, Leute rennen auf das Brandenburger Tor zu: »Gehen Sie zurück, Sie machen sich strafbar.« Zögern – vorne auf der Mauer die Kamerateams, da können die nicht schießen. Also: Einmal durchs Brandenburger Tor! Mehr wollte ja niemand.

Wieder gen Osten mit all den anderen Mauerspringern. Gegen zwei am Checkpoint Charlie. Verwinkelter Übergang, für Autos jetzt gesperrt. Die erste Kontrolle läßt alle zwanzig Sekunden zehn passieren. Der zweite Posten will den Ausweis, taz-Visitenkarte reicht auch. Der Dritte – grimmig – will das Visum einsehen. Nochmal taz-Karte zeigen, diesmal mit Postgirokarte: »Das geht doch nicht, das geht doch nicht, gehn Se durch!« Auf die wartende Meute zu: »Dich wollen wir hier nicht haben, geh wieder rüber!« empfängt ein Westler den tazler und packt ihn am Kragen. Der nächste schüttelt dem vermeintlichen Ostler die Hand: »Brauchst 'ne Wohnung, ich hab' Arbeit.« Die einen grünen West-Ausweis haben, halten ihn hoch und ernten dafür Schläge und Buh-Rufe. Kurz nach zwei Uhr: zum ersten Mal hört man jetzt das Deutschlandlied, erste Strophe, Japaner filmen, der Bär – braun und echt – tanzt.



Quelle: Elmar Kraushaar und Gabriele Riedle, „Wir wollen rein! An der Grenze tanzt der Bär“, taz, 11. November 1989.
© taz

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