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Die Beschreibung der antisemitischen Verfolgung und der „Kristallnacht” sowie ihrer Folgen in der Region Stuttgart durch den amerikanischen Konsul Samuel Honaker (12. November und 15. November 1938)

Um internationale Kritik und eine Entfremdung der allgemeinen Bevölkerung zu vermeiden, hatte die NS-Regierung während der ersten Jahre versucht, die Wellen von öffentlicher Gewalt gegen Deutschlands Juden und sonstige willkürliche Pöbeleien und Übergriffe einzudämmen. Stattdessen hatte Hitler den nationalsozialistischen Antisemitismus zunehmend in juristische Bahnen gelenkt, um die jüdische Bevölkerung durch diskriminierende Gesetzgebung sozial und wirtschaftlich zu isolieren und zur Emigration zu bewegen. Obwohl bis 1938 circa 250.000 Juden Deutschland verließen, frustrierte diese Politik die radikalsten Elemente der Partei und Regierung, die eine sofortige Lösung der sogenannten Judenfrage forderten.

Aufgrund bestehender Befürchtungen von Seiten Polens, dass die in Deutschland lebenden polnischen Juden angesichts des zunehmenden deutschen Antisemitismus in ihre Heimat zurückkehren würden, erklärte die polnische Regierung im März 1938, dass im Ausland lebende polnische Staatsbürger, die bis zum 31. Oktober des Jahres ihre Pässe nicht erneuern ließen, ihre Staatsbürgerschaft verlieren würden. Für die etwa 70.000 in Deutschland lebenden polnischen Juden hätte dies bedeutet, dass sie weder nach Polen zurückkehren noch in ein anderes Land emigrieren konnten. Außenminister Joachim von Ribbentrop forderte daher polizeiliche Maßnahmen gegen die in Deutschland lebenden polnischen Juden. In der Nacht vom 28. Oktober 1938 verhaftete die Gestapo ca. 17.000 Juden polnischer Herkunft, um sie nach Polen zu deportieren. Polen schloß jedoch am 31. Oktober seine Grenzen, sodass der Großteil der Deportierten im Niemandsland jenseits der östlichen Reichsgrenze bei Zbaszyn (Bentschen) ausgesetzt wurde. Da die polnische Regierung ihre Aufnahme zunächst verweigerte, mussten sie unter katastrophalen Lebensbedingungen wochenlang ausharren, bis ihre Situation geklärt wurde.

Nachdem der in Paris lebende siebzehnjährige Herschel Grynszpan (auch „Grünspan“ nach deutscher Schreibweise), Sohn einer der betroffenen Familien, vom Schicksal seiner Eltern erfuhr, beschloss er, durch ein spektakuläres Attentat die Welt auf das Leid der jüdischen Opfer des NS-Regimes aufmerksam zu machen. Am Morgen des 7. November betrat er die deutsche Botschaft in Paris und schoss auf den Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath, der zwei Tage später seinen Verletzungen erlag. Schon am 7. und 8. November war es in Deutschland zu einigen SA- und SS-geleiteten Ausschreitungen gegen jüdische Personen und Einrichtungen gekommen. Als Hitler vom Tod des Diplomaten erfuhr, ermächtigte er Goebbels, ein reichsweites Pogrom zu inszenieren. Es sollte der Welt als ein spontaner Ausbruch der Empörung der deutschen Bevölkerung über das jüdische Verbrechen präsentiert werden. Noch in der gleichen Nacht entfesselten SA und SS eine Welle der Gewalt und Zerstörung über ganz Deutschland, in deren Verlauf tausende Synagogen, jüdische Geschäfte, Fabriken, Wohnungen und Häuser zerstört und geplündert wurden. Wie aus dem folgenden Augenzeugenbericht des US-Konsuls Samuel Honaker ersichtlich wird, gelang es dem NS-Regime nicht, das Bild von der spontanen Volkserhebung gegen die Juden vor den Augen der Welt aufrechtzuerhalten.

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I. Brief an Hugh R. Wilson, Amerikanische Botschaft, Berlin


Amerikanisches Konsulat
Stuttgart, Deutschland, 12. November 1938

Nr. 307
Betreff: Antisemitische Verfolgung im Stuttgarter Konsularbezirk

The Honorable Hugh R. Wilson, Amerikanischer Botschafter, Berlin


Sir:

Ich habe die Ehre, Ihnen Bericht zu erstatten von den Schicksalsschlägen, die die Juden Südwestdeutschlands in den letzten drei Tagen erlitten haben und die dem Bewohner eines aufgeklärten Landes im 20. Jahrhundert irreal erscheinen würden, hätte man die schrecklichen Erfahrungen nicht selbst miterlebt und wären diese nicht durch mehr als eine Person von unbestreitbarer Integrität bestätigt worden. Zur Seelenpein, der die Juden in diesem Konsularbezirk seit geraumer Zeit ausgesetzt sind und die sich am Vor- und Nachmittag des 10. November schlagartig zuspitzte, kamen das Grauen der mitternächtlichen Festnahmen, des überstürzten Aufbruchs in Polizeibegleitung in halb angekleidetem Zustand, des Klagens der so plötzlich allein gelassenen Frauen und Kinder, der Unterbringung in überfüllten Zellen und der Panik der Mitgefangenen.

Diese Massenverhaftungen stellten die Zuspitzung eines leidvollen Tages für die Juden dar. Das Entweihen und Anzünden der Synagogen setzte vor Tagesanbruch ein und hätte ein Warnsignal sein sollen für das, was in den darauf folgenden Stunden kommen sollte. Um 10.30 Uhr wurden etwa 25 Führer der Jüdischen Gemeinde von einem gemeinsamen Kommando von Polizisten und Männern in Zivil festgenommen. Die verhafteten Personen waren zwischen 35 und 65 Jahre alt und wurden in zwei Kraftwagen vom Israelitischen Oberrat zum Polizeirevier gebracht. Auf dem Weg vom Gebäude zu den Autos wurden die Opfer von Schaulustigen beschimpft und angeschrieen.

Andere Festnahmen fanden in Stuttgart an verschiedenen Orten statt. Während Stuttgart den ganzen Tag über Schauplatz vieler antisemitischer Bekundungen war, wurden ähnliche Vorkommnisse aus ganz Württemberg und Baden gemeldet. Hier wie dort kam es zu Übergriffen auf Juden. In der Zwischenzeit war die Panik der jüdischen Bevölkerung so stark angewachsen, dass Juden aus allen Teilen Deutschlands bei der Öffnung des Konsulats nach dem Tag des Waffenstillstands* das Büro stürmten, bis es vor Menschen überquoll. Sie bettelten um ein sofortiges Visum oder um ein Schreiben im Zusammenhang mit ihrer geplanten Auswanderung, das sie vor der Verhaftung und Belästigung durch die Polizei schützen könnte. Frauen über sechzig flehten im Namen ihrer an irgendeinem unbekannten Ort festgehaltenen Männer. Amerikanische Mütter deutscher Söhne appellierten an die Sympathie des Konsulats. Jüdische Väter und Mütter mit Kindern im Arm hatten Angst, ohne ein Papier, das ihre baldige Auswanderung bestätigte, nach Hause zu gehen. Männer, in deren Häusern in den vergangenen Tagen alte rostige Revolver gefunden worden waren, schrieen, dass sie es nicht wagten, an ihre Wohnorte oder Arbeitsplätze zurückzukehren. Es war in der Tat eine brodelnde Masse von Panik erfasster Menschheit.


* 11. November, Gedenktag des Waffenstillstands im 1. Weltkrieg – Hg.

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