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Joschka Fischer wird erster grüner Umweltminister (4. November 1985)

Im Herbst 1985 publizierte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel einen Titelbericht über Joschka Fischer als ersten Umweltminister der Grünen in Hessen und löste damit eine heftige Kontroverse über dessen Vergangenheit als Straßenkämpfer und sein für einen Minister unkonventionelles Auftreten in Jeans und Turnschuhen aus.

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Hessen-Koalition: „Wie Willy Wollte“

Er kommt auf leisen Sohlen, in Turnschuhen aus dem Supermarkt.* Die Blue jeans sind abgewetzt, das Sweatshirt, rot, ist verwaschen, die Lederjacke schmuddelig. Der Mann sieht aus wie eine Mischung aus Roadie und Rowdy. Dagobert, sein Hund, umschwänzelt ihn.

Das bleiche, etwas aufgedunsene Gesicht trägt graue Schatten unter rotgeäderten, wachen Augen. Die dunklen, wuscheligen Haare sind ungekämmt, nur einmal in der Woche rasiert er sich, montags**.

Er ist ein fanatischer Dauerdiskutierer, ein Agitator, spricht mit heller, durchdringender Stimme und leichtem Frankfurter Akzent – seine Reden sind gespickt mit meist herausfordernden Gedanken. Wenn er Gegner schmäht und beleidigt, dann mit Wollust.

Da ist nichts an Joseph („Joschka“) Fischer, 37, was nicht dem Bild des braven Bürgers vom Ausgeflippten, vom Revoluzzer entspräche. Und wenn demnächst vor der hessischen Staatskanzlei der Dienstwagen des Umweltministers vorfährt, dann könnte es schon zu Verwechslungen kommen: Der distinguierte Herr im grauen Anzug und mit Krawatte – das ist der Chauffeur. Der Kerl im Fond, der aussieht wie die Typen, die dem Ruhrpott-Schläger Schimanski Spitzeldienste leisten – das ist der Minister.

Es ist für manche kaum zu fassen: Ein Sponti der Frankfurter Hausbesetzerszene, ein Realo-Grüner mit kernigem Proletengehabe, ein ehemaliger Vorbestrafter und Drogenkonsument, ein Mann im Schlabberlook nimmt Platz am Kabinettstisch – als Minister für „Umwelt und Energie“.

Seit die hessischen Grünen dem Regierungsbündnis mit Holger Börner (SPD) zustimmten und damit die erste ökosoziale Koalition in einem Bundesland besiegelten, hat sich das politische Klima in Deutschland verändert. Unternehmer, konservative Politiker und Leitartikler formieren sich, als gelte es, einen Staatsstreich abzuwehren.


* Mit Nuckelflasche in der Brusttasche.
** Das Titelphoto wurde am Montag letzter Woche aufgenommen.

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