GHDI logo


Eine Diplomingenieurin berichtet (1986)

Die Umsetzung der theoretischen Gleichberechtigung von Mann und Frau in die Praxis stieß auch in der DDR auf Probleme. Ein realistisches Bild der Rolle der Frau in der DDR, die nach wie vor mit Vorurteilen zu kämpfen hat, zeigt dieser Bericht einer Diplomingenieurin in Bad Salzungen.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 1


Martina Daske, 27, Diplomingenieurin, Leiterin eines Jugendforscherkollektivs im Kaltwalzwerk Bad Salzungen


Kurz nach halb sechs gehen wir zu Hause weg, ich bringe die unausgeschlafene Tochter in den Kindergarten, renne in den Betrieb, und nach zehn und einer halben Stunde kommen wir wieder zurück. ... Ich weiß, daß Frauen früher 12 bis 14 Stunden im Betrieb arbeiten mußten. Aber heutzutage immer nur so reden, als ob wir jungen Mütter mit Kindergeld und Babyjahr schon wie im Paradies leben, das ist nur die halbe Wahrheit. Das Kindergeld kann man versaufen, und der Betrieb, in dem man arbeitet, kann einen drücken oder fördern. Man ist auch heute nur so sehr gleichberechtigt, wie man selbst etwas aus den gesetzlichen Möglichkeiten macht. Das Wichtigste dabei: Die Arbeit, die man erledigt, muß befriedigen; die Seele darf im Betrieb nicht immerzu SOS rufen. Was sollte es sonst – außer dem Geld – für einen Sinn haben, daß man jeden Morgen mit dem Kind in stockdunkler Nacht aus der Wohnung hetzt.

Ich habe in Henningsdorf Walzer mit Abitur gelernt, die Verformung des Stahlblechs von der Pike auf erlebt. Meinen Mann – er stammt aus Halle – fand ich während des Studiums, und wir suchten einen Ort, wo wir zusammen hingehen konnten, er mit seinen bergmännischen Kenntnissen und ich mit meinen von der Walztechnik. Wo, das war uns egal, Hauptsache zusammen. Er fing bei Kali an, und ich meldete mich hier. Der Abteilungsleiter schaute nicht sehr begeistert, er fragte: »Also eine Frau?« So, als ob man das nicht sieht. Ich sagte: »Ja, eine Frau!« Er: »Und Kind auch?« – »Ja«, sagte ich, »und Kind auch ... und Krippenplatz und Wohnung brauchen wir auch ... und Haushaltstag kriege ich auch, und wenn in der Kinderkrippe Windpocken sind, werde ich auch zu Hause bleiben müssen ...«

Da hat er sich wortlos umgedreht. Ich war wahrscheinlich so patzig, weil ich vorher, weder in der Lehre noch beim Studium, gespürt hatte, daß bei uns ein Unterschied zwischen der Leistung einer Frau und der eines Mannes gemacht wird.

Ich fing im September 1985 hier an, bekam einen Krippenplatz und eine Wohnung, war sehr froh und dankbar. Schreibtisch hatten sie keinen, also stellten sie mich an die Walzstrecke und sagten: »Du bist Diplomingenieur, du schreibst genau auf, wann und wo das Band beim Walzen knickt!« Aber dort stand schon ein Technologe und einer von der TKO, die hatten auch nichts anderes zu tun, als zu beobachten und aufzuschreiben, wann und wo das Band knickt. Da waren wir also drei ...

[ . . . ]

Das Jugendforscherkollektiv habe ich auch aus Eigennutz gegründet. Denn entweder stehen, gucken und aufschreiben, wo das Band knickt, oder sich selbst eine Aufgabe suchen, die einen reizt und fordert. Etwas anderes war nicht möglich.

[ . . . ]


Quelle: Landolf Scherzer, Der Erste. Eine Reportage aus der DDR. Köln, 1989, S. 200-01.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite