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Dokumente - Der Vereinigungsschock

Schneller als erwartet schlug die Euphorie über den Fall der Mauer und den Untergang der SED-Regimes in Enttäuschung um. Innerhalb kurzer Zeit waren die Bürger der DDR mit einer wirtschaftlichen und politischen Umstrukturierung konfrontiert, die zudem unter der Federführung Westdeutschlands stattfand. Die Rolle der Bundesrepublik nährte Hoffnungen, dass diese doppelte Transformation schnell und erfolgreich vor sich gehen würde. Doch wurde die Bundesrepublik rasch auch Zielscheibe der Kritik, als die Schwierigkeiten dieser Transformation deutlich wurden.

Zu dem Vereinigungsschock, der die ersten Jahre der Vereinigung begleitete, trugen vor allem die Umstände der wirtschaftlichen Transformation bei. Der rasante Übergang vom Plan zum Markt und der Eintritt in den globalen Wettbewerb hatten weit reichende Konsequenzen, die jeden einzelnen Bürger betrafen. Die Privatisierung der volkseigenen Wirtschaft wurde noch von der DDR-Übergangsregierung in die Wege geleitet (Dok. 2), doch richtig in Gang kam sie erst nach der Vereinigung im Oktober 1990. Unter der Führung der Treuhandanstalt wurden bis Ende 1994 mehr als 95 Prozent der Industrie privatisiert oder den Kommunen unterstellt, doch tausende Betriebe wurden als nicht sanierungsfähig eingestuft und liquidiert. Die Zahl der Arbeitsplätze schrumpfte von über vier Millionen auf weniger als die Hälfte. Die Sanierungs- und Verkaufsstrategien der Treuhand standen im Kreuzfeuer der Kritik und wurden immer wieder von Streikaktionen begleitet. Diejenigen, die die Tätigkeit der Treuhand verteidigen, weisen darauf hin, dass diese unter schwierigen Bedingungen effizient gearbeitet habe (Dok. 14).

Nicht nur politische Proteste waren dafür verantwortlich, dass sich die Privatisierung mancher Industriebetriebe verzögerte. Erschwerend hinzukam, dass durch die Enteignungen zuerst in der sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR die Eigentumsverhältnisse oft unklar waren. Das bereits 1990 von den Regierungen der DDR und der Bundesrepublik festgelegte Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ rief bei vielen Bürgern Ängste hervor, da sie um Grundbesitz und Existenz fürchteten (Dok. 1). Enteignungen unter der sowjetischen Besatzungsmacht (1945-1949) wurden im Gegensatz zu denen unter der DDR-Regierung nicht rückgängig gemacht und beschäftigten die Gerichte bis 2005. Der politische Schlagabtausch, der den Umbau der Wirtschaft und die Vermögensrestitution begleitete, offenbarte immer wieder vermeintliche wie wirkliche Ost-West-Gegensätze (Dok. 10).

Bereits 1991 wurde das Wort von der Vereinigungskrise geprägt (Dok. 5). Während viele Bürger der ehemaligen DDR eine schnelle wirtschaftliche und soziale Angleichung an die Verhältnisse im Westen Deutschland erhofften, waren die meisten Westdeutschen davon ausgegangen, dass die Wiedervereinigung für sie kaum Folgen haben würde. Beides stellte sich als falsch heraus, und neben politischen Fehlern trugen diese Fehleinschätzungen dazu bei, die Distanz zwischen Ost und West zu fördern. Für viele ehemalige DDR-Bürger schlug die Kritik am Westen immer mehr in eine Abgrenzung vom Westen um, und mentale Unterschiede zwischen Ost und West wurden betont, um Ost-West-Differenzen zu erklären (Dok. 9). In der allgemeinen Woge der Enttäuschung und Desillusionierung waren Stimmen, die die Fortschritte in der Einheit Deutschlands betonten, eher selten (Dok. 8).

Die emotionalen Aspekte des Vereinigungsschocks haben ab Mitte der neunziger Jahre einer nüchternen Betrachtungsweise Platz gemacht. Da jedoch die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der Vereinigung noch immer nachwirken, flammen alte Ressentiments und Probleme immer wieder auf. Viele Menschen sehen sich als Verlierer der Einheit, auch wenn sie die Chance zum Neuanfang nutzten (Dok. 6). Trotz aller Probleme, die im Zuge der Vereinigung auftraten, wird diese jedoch von einer großen und wachsenden Mehrheit der Bevölkerung in Ost und West befürwortet (Dok. 13). Dabei wird auch immer wieder deutlich, dass von den Befragten die persönliche Situation meist positiver eingeschätzt wird als die allgemeine Lage des Landes.

Wirtschaftlich hinkt der Osten nach wie vor hinter dem Westen her und ist von Bundesmitteln abhängig. Die von Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ sprossen nicht aus dem Boden (Dok. 3). Die wirtschaftliche Stagnation im Osten Deutschlands ist besonders kritisch, da sie trotz des Transfers staatlicher Fördermittel in der Höhe von mehr als einer Milliarde Euro eingetreten ist (Dok. 7). Die Arbeitslosenzahlen in den neuen Bundesländern sind konstant hoch (Dok. 15) und insbesondere junge Menschen wandern vom Osten in den Westen der Bundesrepublik ab. Angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage in manchen Teilen der ehemaligen DDR empfanden viele Bürger die unter Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeleiteten Reformen des Sozialstaates und des Arbeitsmarktes als besonders bedrohlich (Dok. 12). Neue Denkanstöße zum Thema der deutschen Vereinigung konzentrieren sich vor allem darauf, wie man den wirtschaftlichen Aufbau im Osten des Landes verbessern kann (Dok. 11).

Im 21. Jahrhundert wird in den Medien das Thema der deutschen Einheit meist nur noch bei besonderen Anlässen wie dem Jahrestag des Mauerfalls oder dem Tag der Deutschen Einheit erwähnt. Das nachlassende Interesse an Ost-West-Themen hat nicht nur mit einer gewissen Vereinigungsmüdigkeit zu tun, sondern vor allem damit, dass die wichtigsten Probleme Deutschlands – wie demographischer Wandel, Umbau der Wirtschafts- und Sozialsysteme, die Zukunft der Europäischen Union – heute Ost wie West gleichermaßen betreffen.

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