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Georg Wedekind, „Anrede an seine Mitbürger”, gehalten in der Gesellschaft der Volksfreunde zu Mainz (27. Oktober 1792)

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4. Das Gesetz soll der Ausdruck des allgemeinen Willens der Nation sein. Wie kann aber ein einzelner Mann diesen allgemeinen Willen gehörig erkennen und beurteilen, selbst wenn er auch wollte? »Durch seine Räte?« O gewiß nicht. Diese Leute haben ihr Privatinteresse, und sie müßten den gnädigsten Herrn schmeicheln, müssen sprechen, wie er es gern hört, damit sie in Ansehn bleiben, damit sie Zulagen erhalten. Und denn sind auch die Räte nicht imstande, über das Interesse der Untertanen gehörig zu urteilen, weil sie sich zu groß dünken, mit ihnen Umgang zu haben. Wer hat wohl je einen Hofrat und einen Professionisten oder einen Landmann beisammen in Gesellschaft gesehen? Die Leute kennen sich kaum. Wer weiß nicht, daß die Herren Räte sich schämen, an öffentliche Örter zu gehen, wo die Bürger oder die gemeinen Leute, wie sie sagen, zusammenkommen? Und solche Menschen, die es für eine Schande halten, den Bürgersmann näher kennenzulernen, die sollen das Land regieren! Bürger, öffnet doch einmal Eure Augen, seid doch nicht blind gegen Euren eigenen Vorteil. Erinnert Euch an einen gewissen Hofrat, der Euch anfuhr oder gar mit dem Kerker bedrohete, wann Ihr Klagen anzubringen hattet.

5. Fast alle Fürsten betrachten ihre Länder wie der Güterbesitzer sein Gut. Es kommt nur darauf an, daß das Land vieles dem gnädigsten Herrn eintrage. Oder noch besser der Vergleich: Der Fürst betrachtet seine Untertanen wie der Fabrikant (als Fabrikant) seine Fabrikarbeiter. Alle Richtungen müssen so getroffen werden, daß die Fabrikarbeiter dem Fabrikanten vieles eintragen. Wann nur dieser Zweck erreicht wird, so ist alles gut. Ob die Fabrikarbeiter glückliche Menschen sind, das kümmert den Fabrikanten (als Fabrikanten) nicht. So was, meine Brüder, kann nun wohl bei einer Fabrik angehen; aber ein Land darf nicht wie eine Fabrik angesehen werden. Dafür haben die Bürger dem Regenten die Macht nicht in die Hand gegeben. Sie wollen zu glücklichen, gesunden, frohen, vernünftigen Menschen erzogen sein. Nun findet Ihr aber, daß von der Regierung alles mit kameralistischen Augen angesehen wird. Gute Anstalten können nicht aufkommen, wenn sie der Kammer, das heißt soviel als dem Beutel des Fürsten, nichts eintragen. Lesen, schreiben und rechnen höchstens, denn auch eine oberflächliche Kenntnis der Landesreligion, das ist alles, worin man den gemeinen Mann unterweiset, damit er ja nicht zu klug werde. Dieses satanische Prinzipium, daß ja der Untertan nicht zu klug werde, daß er so dumm bleibe, wie nur möglich ist, diesen höllischen Grundsatz hört Ihr allenthalben.

6. Es ist wahr, es hat auch gute Fürsten gegeben, obgleich auch der gute Fürst, weil er nur eine Person ist, nie ein Land gut regieren kann. Aber wieviel äußerst schlechte Fürsten gab es dagegen? Was der eine Fürst in Ordnung gebracht hat, das zernichtet der andere. Die meisten stehen unter dem Einflusse ihrer Beichtväter, Mätressen, Kammerdiener, Leibärzte und so weiter. Die meisten, ja fast alle Fürsten sind schlecht erzogene Menschen, die den Bürger und den Bauer niemals kennengelernt haben, die von Kindesbeinen auf durch Schmeichelei verdorben worden sind, denen man schon in der frühesten Jugend weisgemacht hat, daß sie eine Gattung von höheren Wesen wären als wir übrigen armen Erdensöhne. Was steht von solchen verdorbenen Menschen zu erwarten?

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