GHDI logo

Georg Forster, „Bemerkungen über den neuen [französischen] Gemeingeist”, aus seinen Erinnerungen aus dem Jahre 1790 (1793)

Seite 2 von 2    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Nur freie Nationen, sagt der Augenzeuge, dem wir hier folgen, kennen dieses Gefühl; denn nur freie Nationen haben ein Vaterland.

Ich sah die Zurüstungen zu diesem Feste, das beispiellos in den Jahrbüchern der Menschheit bleibt. Das größte Amphitheater in der Welt, wogegen die berühmten römischen nur Kinderspiele sind, ward in wenigen Tagen durch die Allmacht des Volkswillens erschaffen. Die verdächtige Trägheit von 15 000 besoldeten Arbeitern ward durch den Enthusiasmus von 100 000 Freiwilligen vergütet. Im Taumel der Freiheit arbeiteten sie mit einem Eifer, mit einer Verschwendung der Kräfte, die man kaum noch begreift, wenn man sie auch selbst gesehen hat. Unendlich war die Abwechslung der arbeitenden Gruppen, und unbegreiflich, ohne die Begeisterung des Augenblicks in Rechnung zu bringen, die Ordnung, die allenthalben herrschte. Hier waren keine Wachen ausgestellt, hier kannte man nicht die gebieterische Stimme des Aufsehers, und noch weniger seinen Stecken; auch die Bienen und Ameisen bauen ohne Tyrannen und Satelliten, und vollenden doch in Eintracht den Bau ihres kleinen Freistaats. Die Gerechtigkeit des Volkes heiligte eines Jeden Eigentum, und schützte Jedermann in seinem Rechte. Kleidungsstücke und Uhren, die man während der Arbeit von sich gelegt hatte, blieben den ganzen Tag unberührt an ihrer Stelle liegen. Mit Trommeln und Kriegsmusik, die Schaufeln auf der Schulter, zogen die begeisterten Scharen Arm in Arm unter Freiheitsgesängen zu ihrem Tagewerk, und später als die Sonne verließen sie das Feld. Alte und Junge, Männer und Weiber, Herzöge und Tagelöhner, Generalpächter und Schuhputzer, Bischöfe und Schauspieler, Hofdamen und Poissarden, Betschwestern und Venuspriesterinnen, Schornsteinfeger und Stutzer, Invaliden und Schulknaben, Mönche und Gelehrte, Bauern aus den umliegenden Dörfern, Künstler und Handwerker unter ihren Fahnen kamen Arm in Arm in buntscheckigem Zuge, und griffen rüstig und mutig zur Arbeit. Tausend rührende Züge des überall rege gewordenen Gefühls verherrlichten diese geschäftige Szene; tausend gutmütige Scherze, tausend Beweise des gallischen Frohsinns, tausend Beispiele der Ehrliebe, Großmut, und Uneigennützigkeit des Pöbels versöhnten die gedemütigte Morgue des Adels.



Quelle: Georg Forster, „Bemerkungen über den neuen Gemeingeist“, aus seinen Erinnerungen aus dem Jahre 1790 (1793), in Sämtliche Werke, herausgegeben von G. G. Leipzig: Brockhaus, 1843, Band VI, S. 181-83.

Abgedruckt in Jost Hermand, Hg., Von deutscher Republik 1775-1795. Texte radikaler Demokraten. © Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1968, S. 112-15.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite