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Joachim Heinrich Campe, „Brief aus Paris, 1789”, aus seinen Briefen aus Paris (1790)

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Abschied von Paris
Paris, den 26. August 1789


Ich halte Ihnen Wort, guter St.! Diese letzte nächtliche Stunde, die ich in Paris – wo ich das Schlafen beinahe verlernt hätte – durchwache, soll für Sie sein.

Je länger ich hier bin, je aufmerksamer ich die Knospen, die Blüte und die Früchte der jungen französischen Freiheit betrachte und je länger ich das hier angefangene Kreißen des von praktischer Philosophie geschwängerten menschlichen Geistes beobachte, welcher gerechte und weise Staatsverfassungen, allgemeine Aufklärung und Völkerglück gebären zu wollen verheißt, desto inniger und fester wird meine Überzeugung, daß diese französische Staatsumwälzung die größte und allgemeinste Wohltat ist, welche die Vorsehung seit Luthers Glaubensverbesserung der Menschheit zugewandt hat, und daß daher das ganze weiße, schwarze, braune und gelbe Menschengeschlecht, rund um den Erdball herum, ein allgemeines feierliches »Herr Gott, dich loben wir« dafür anstimmen sollte. Alle ehemaligen Revolutionen entstanden in Zeiten und in Ländern, wo der menschliche Verstand noch nicht zu hinlänglicher Reife gekommen war, um eine Konstitution zu schaffen, welche auf die lautersten Grundsätze der Vernunft, des Rechts und der Billigkeit gegründet wäre; alle anderen Völker, welche das Sklavenjoch abschüttelten, sahen sich von dem Augenblicke an, da sie diesen kühnen Schritt getan hatten, in langwierige und blutige Kriege verwickelt, unter denen ihre ersten provisorischen Einrichtungen, mit den in solchen Fällen unvermeidlichen Übereilungsfehlern, schon eine gewisse Konsistenz erhielten, die sich nachher, auch bei besseren Einsichten, nicht füglich wieder umstoßen ließ. Hier ist nun zum erstenmal eine Revolution, die in jeder Betrachtung unter glücklicheren Vorbedeutungen angefangen ward, die also auch natürlicherweise eine Konstitution verspricht, wie bisher noch keine war, eine Konstitution, die alle Vollkommenheiten der englischen in sich fassen und alle Mängel und Unvollkommenheiten derselben ausschließen wird. Hier ist ein Volk, so aufgeklärt, so edel und mild, als es je eins gegeben hat; ein König, so sanft, so lenksam und ehrgeizlos, als je einer gewesen ist; eine aus zwölfhundert Köpfen bestehende Versammlung von Stellvertretern der Nation, deren größere Hälfte wenigstens aus sehr helldenkenden, geistvollen, kraftbegabten und mutigen Patrioten besteht, und, was das beste ist, diese drei Hauptfiguren in dem großen interessanten Gemälde – Volk, König und Nationalversammlung – umschlingen sich in schönster Harmonie und gehen, Hand in Hand gelegt, dem erhabenen Ziele zu. Noch mehr: hier sind – wer weiß wieviel tausend denkende und wohlunterrichtete Bürger, welche durch ihre Debatten am Palais-Royal, hier sind unzählige wachsame Schriftsteller, welche durch fliegende Blätter, kleine Abhandlungen und Werke den Beratschlagungen der Volksvertreter zu Hilfe kommen, das Nachdenken derselben leiten, sie vor möglichen Fehlern warnen und ihnen ebensoviel Enthusiasmus fürs Gute als Vorsicht und Behutsamkeit zur Vermeidung des Bösen einflößen. Hier ist zum erstenmal eine Volksversammlung, die, obgleich die Hälfte ihrer Mitglieder aus Edeln und Priestern besteht, doch in ihrer Mehrheit die Greuel der Hierarchie und des aristokratischen Despotismus – von denen die Menschheit von jeher noch viel mehr als von der monarchischen Alleingewalt gelitten hat – verabscheut, verwünscht und mit Stumpf und Stiel auszurotten entschlossen zu sein scheint. Hier wird alles öffentlich – welch eine Schutzmauer wider Übereilungen und eigennützige Absichten – verhandelt, bestritten, festgesetzt. Hier treffen endlich so ungemein glückliche Konjunkturen in ganz Europa zusammen, daß man mit der Vollendung und Begründung der neuen Konstitution hoffentlich früher zustande kommen wird, als irgendeine bedeutende Macht den Einfall oder das Vermögen haben dürfte, ihnen dabei Hindernisse in den Weg zu legen. Welch ein glücklicher Zusammenfluß von Umständen, die, solange die Welt steht, in gleichem Maße noch nie zusammentrafen! Und was läßt sich davon nicht alles hoffen, erwarten, als unausbleiblich vorhersagen! Mein Herz erwärmt und erweitert sich beim Anschauen dieser herrlichen Perspektive. Wir werden zum erstenmal ein großes Reich sehen, worin das Eigentum eines jeden heilig, die Person eines jeden unverletzlich, die Gedanken zollfrei, das Glauben ungestempelt, die Äußerung desselben durch Worte, Schriften und Handlungen völlig frei und keinem menschlichen Richterspruch mehr unterworfen sein wird; ein Reich, worin keine privilegierten, keine geborenen Volksbedrücker, keine Aristokratie als die der Talente und Tugenden, keine Hierarchie und kein Despotismus mehr stattfinden, wo vielmehr alle gleich, alle zu allen Ämtern, wozu ihre Verdienste sie fähig machen, fähig sein und nur Kenntnisse, Geschicklichkeiten und Tugenden einen Vorzug geben werden; ein Reich, wo Recht und Gerechtigkeit für alle auf gleiche Weise und ohne alles Ansehen der Person werden verwaltet, und zwar unentgeltlich verwaltet werden und wo jeder, auch der armseligste Landmann, nicht etwa nur dem Scheine nach, wie in anderen Ländern, sondern wirklich in der gesetzgebenden Versammlung repräsentiert werden, also jeder, auch der armseligste Landmann, Mitregent und Mitgesetzgeber seines Vaterlandes sein wird. Wer kann bei dieser entzückenden Aussicht, die jetzt doch wahrlich schon mehr als bloße Hoffnung ist, verweilen, ohne daß ihm das Herz für alle die süßen menschlichen Gefühle, die sich seiner dabei bemächtigen, zu enge wird und ihm aus dem Busen springen möchte! Und nun die Folgen, die das alles für Europa, für die Welt haben wird! Ich möchte, indem ich sie überdenke, aufschreien vor Freude und wie Asmus ein Knospenreis der Freiheit brechen und mit diesem, wie mit einem Thyrsus, in der Hand dem herannahenden Frühling des allgemeinen Völkerwohls entgegentaumeln.




Quelle: Joachim Heinrich Campe, Briefe aus Paris. Brauschweig: in der Schulbuchhandlung, 1790. Nachdruck herausgegeben von Helmut König. Berlin: Rütten & Loening, 1961, S. 134-39, 274-77.

Abgedruckt in Jost Hermand, Hg., Von deutscher Republik 1775-1795. Texte radikaler Demokraten. © Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1968, S. 101-04, 118-121.

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