GHDI logo

Wohnung und Häuslichkeit (1899)

Seite 4 von 4    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Zu den allerschlimmsten Eigenschaften der heutigen „herrschaftlichen“ Mietskasernen muß das Fehlen der Corridore in den Hinterhäusern gezählt werden. Da öffnet sich ein Schlafzimmer ins andre, jede Möglichkeit für Kranke, Ruhebedürftige, geistig Arbeitende, Nervöse, sich zurückzuziehen, für sich zu sein, Frieden zu finden, fehlt. [ . . . ]

Aber wir im ganzen nördlichen und mittleren Deutschland lassen die kleinen Leute in Dachkammern und Kellern untergehen, in Schlafgänger-Quartieren verkommen und leben unter der wucherischen Herrschaft der Stadtagrarier in Häusern ohne reine Luft, ohne Sonnenlicht, ohne Behagen, ohne die tausend Hilfsmittel der modernen Technik, deren Heizungs-, Ventilations-, Beleuchtungs-, Wasch- und Aufzugs-Mittel wir wohl in unseren Irrenanstalten und Siechenhäusern einführen, aber nicht von dem Geize und der Bornirtheit der Bodenwucherer zu fordern wagen. Und von der Aesthetik der Wohnung will ich gar nicht zu reden anfangen, Bände ließen sich schreiben über den unsinnigen Aufputz der zwei oder drei Frontzimmer, über die schäbige Verwahrlosung der vier oder fünf engen Hinterzimmer, die man uns für 2000 oder 3000 Mark im Jahr als Wohnung zu bieten wagt.

Warum ertragen wir diese Misere und diese Sklaverei? Ist nicht unser Unbehagen und das schreckliche Wohnungselend der Arbeiter und Handwerker auf einem Boden gewachsen? Sind denn die 930 pro Mille (in Berlin) die 910 pro Mille (in Breslau) Mieter unter den Einwohnern unserer aufblühenden Städte nur eine Hammelheerde, die vor den 70 oder 90 pro Mille Einwohner, die ein Haus besitzen, zittern müssen?

Der Mangel kleiner Wohnungen für Familien mit bescheidenem Einkommen, das Fehlen von Wohnungen, die ein Wohnen, kein Zusammengepferchtsein, gewähren, für die Schichten, die 20 bis 25% eines hohen Einkommens dafür zu opfern bereit sind, ist eine ganz paradoxe Erscheinung.



Quelle: Hans Kurella, „Wohnung und Häuslichkeit“, Neue Deutsche Rundschau 10 (1899), S. 816-19.

Abgedruckt in Gerhard A. Ritter und Jürgen Kocka, Hg., Deutsche Sozialgeschichte, 1870-1914. Dokumente und Skizzen. München: C.H. Beck, 1982, S. 56-60.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite