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Franz Hitze, Die Quintessenz der sozialen Frage (1880)

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Um diese Reorganisation zu ermöglichen, müssen vor allem ‚Organe‘ geschaffen werden, von denen diese Reorganisation auszugehen hat, resp. an die sie sich anschließen kann. Das beste und nächste Mittel dazu scheint uns ständische Interessenvertretung. Auch dieser Vorschlag ist nicht neu, nur betonen wir nicht so sehr die politische, als die sozial-wirtschaftliche Bedeutung, die sie in ihrer Weiterentwicklung für die Zukunft haben könnte und müßte.

Es gibt berechtigte ständische Interessen. Diese müssen aber auch im Recht ihren Ausdruck finden. Das führt zu einem ständischen Rechte. Das Recht soll geschaffen werden unter Mitwirkung der Beteiligten. So forderts das natürliche Recht, so anerkennt's auch unsere – demokratische – Zeit. Ständisches Recht fordert also auch ständische Vertretung zur Schaffung dieses Rechts. Da müssen also die einzelnen Glieder der einzelnen Stände in Gemeinde, Provinz, Staat, Vertreter, Ausschüsse wählen, um, sei es in der ‚volkswirtschaftlichen‘, sei es in der politischen Kammer, ihre ständischen Interessen zu beraten und ihnen gesetzgeberischen Ausdruck zu geben. Wir lassen unentschieden, ob diese ständische Vertretung neben unsere heutigen politischen Kammern zu stellen wäre oder ob diese Kammern einfach in ständische zu verwandeln wären*. Die Hauptsache ist: Wir hätten wieder ‚Vertreter des Volkes‘, wie es leibt und lebt und arbeitet, wir hätten geeignete Organe zur Schaffung eines ständischen Rechts zum Schutz nach außen, gegenüber den anderen Ständen, zum Schutze nach innen, gegenüber böswilligen, eigensüchtigen Genossen, Organe, die ihre Tätigkeit immer mehr befestigt im öffentlichen Vertrauen, nach unten wie nach oben, denen auch bald Gerichtsbarkeit und Verwaltung zufallen würde. Es müßten ihnen umfassende Rechte auch zu gemeinsamen wirtschaftlichen Reformen in die Hand gelegt werden. Kurz, es müßte der Anstoß zu einer Bewegung werden, deren Endziel wir gar nicht absehen.

Gerade die Großindustrie bedarf der Organisation und der gesetzlichen Schützung dieser Organisation am dringendsten. Die ‚Anarchie der Produktion‘ kann nur durch eine über- und durchgreifende – autoritative – Organisation gehoben werden. Ordnung der Produktion so, wie es der gesellschaftliche Bedarf erfordert: Das ist eine absolute Forderung, auf der Gesellschaft und Staat wie auch der einzelne Produzent, der ja dabei seine eigene Haut zu Markte trägt, um jeden Preis bestehen müssen. Nichts beweist mehr den unpraktischen blinden Doktrinarismus ‚des gebildeten Bürgertums‘, als daß es in dieser Beziehung noch nichts gelernt, noch nichts getan hat. Die stets wachsenden Krisen werden ihm schon ‚Dialektik einpauken‘.


* Das ständische Wahlsystem scheint uns die einzig richtige Vermittlung zwischen dem Zensus- und dem demokratischen Wahlsystem. ‚Gleichberechtigung der Berufsstände‘ ist das demokratische, ‚nur in und mit dem Stande‘ ist das konservative, echt soziale Element. Die jetzigen Wahlsysteme führen zur Herrschaft der ‚Klasse‘ – der Bourgeoisie oder des Proletariats. Die gesellschaftlichen Unterschiede und Gegensätze werden sich auch stets in der Politik geltend machen. Warum das nicht offen anerkennen, nicht gleich mit in die Rechnung aufnehmen? Der Kampf der Interessen besteht; man kann ihn ignorieren, aber nicht aus der Welt schaffen. Warum nicht mit offenem Visier kämpfen? Warum nicht legitime Organe schaffen, zum Ausgleich der Interessen? Kampf ist Leben, der Kampf ist noch kein Unglück. Aber er muß legitim geführt werden, die Zentralgewalt muß stark genug sein, ihn in Schranken zu halten. So kann auch die Zentralgewalt (‚Monarchie‘) nur gewinnen, weil alle Beteiligten für ihre Erhaltung interessiert sind. Denn den Kampf bis zum Umsturz will kein Stand – höchstens das Proletariat. Eine ‚Partei‘ ist dazu leicht bereit, weil persönliche Anschauungen und Interessen sie beherrschen; ein ‚Stand‘ oder gar die Mehrzahl der Stände nicht, weil da das Individuum zurücktritt, persönlicher Ehrgeiz und Leidenschaft durch den Stand in Schach gehalten werden.

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