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Erinnerungen eines jüdischen Kindes an die „Konvertierung” seiner Familie von der Orthodoxie zum Reformjudentum (1880er Jahre)

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Ist mir dies alles erst nach Jahrzehnten klar geworden, so wurde mir noch am Abend des Telegrammes die Wendung in unserm Leben auf sehr eindringliche Weise verdeutlicht, auf die eindringlichste für ein Kind und wohl auch für die meisten Erwachsenen. Wir gingen, wenn ich Mutter bei ihren Einkäufen begleitete, regelmäßig auch zum Fleischer mit den hebräischen Buchstaben am Schaufenster. Es war ein großer, sauberer Laden; Frau Bukofzer, eine dicke, blasse junge Frau mit herzkrank vorquellenden, übergroßen dunklen Augen, hatte beim Bedienen immer ein freundliches Lächeln für mich, das Fleisch und die Wurst von Bukofzers schmeckten ausgezeichnet. Dennoch verband sich für mich mit diesem Laden ein ständig auftauchendes peinliches Bild aus den ersten Bromberger Tagen. Damals war ich durch einen Zufall für einen Moment in den Hof des Gemeindehauses geraten, als der Kultusbeamte gerade ein paar Hühner schlachtete. Er hob die Tiere hoch, schnitt sie rasch in die Kehle und ließ sie fallen; sie liefen schwankend, flatternd, blutend ein paar Schritte, kippten um, zuckten mit den Flügeln, lagen still, zuckten noch einmal mit den Krallen und lagen endgültig still. Es ging sehr rasch. Ich habe später ganz ähnliches Geflügelschlachten auf einem Bauernhof gesehen, es ist mir auch oft erklärt worden, daß alles Schächten kein grausameres Töten bedeute als das christliche Schlachten. Trotzdem verbindet sich mir von jenem ersten und einzigen Anblick rituellen Schlachtens an mit dem Begriff des Schächtens etwas besonders Widerwärtiges, und darunter litt denn auch ein wenig Bukofzers Geschäft. (Während mir die bluttropfend hängenden Rebhühner und Hasen und die armen Teufel der jämmerlich durcheinanderkrabbelnden Hummer bei Emil Mazur nicht den geringsten Schauder einflößten.) Am Spätnachmittag des Telegrammtages nun – es war schon ganz dunkel – gingen wir nicht wie sonst zu Bukofzer, sondern in eine fremde Straße, in einen fremden Schlächterladen ohne hebräische Buchstaben. Mutter sah sich vorsichtig um, ehe sie eintrat, sie verlangte mit etwas gezwungener Haltung, etwas erregter, deutlich beherrschter Stimme »gemischten Aufschnitt, von jeder Sorte ein bißchen«, sie ging stolz und eilig hinaus. Gleich beim Auspacken in der Küche aß sie ein Stückchen aus dem Paket und gab auch mir davon zu kosten. Es schmeckte kaum anders, weder besser noch schlechter als die gewohnte Wurst. Aber Mutter nahm den Bissen mit einer gewissen Verklärtheit in den Mund. »Das essen die andern«, sagte sie, »und das dürfen wir nun auch essen.« Es war wohl viel bloße Neugier im Spiel, auch Freude am bisher Verbotenen, Trotz und Eitelkeit; aber darunter war es gewiß auch etwas Größeres, was sie damals empfand.



Auszug aus: Victor Klemperer: Curriculum vitae. Erinnerungen 1881-1918 (2 Bände; Herausgegeben von Walter Nowojski. © Aufbau-Verlag GmbH: Berlin, 1996, Bd. 1, S. 38-44.

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