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Erinnerungen eines jüdischen Kindes an die „Konvertierung” seiner Familie von der Orthodoxie zum Reformjudentum (1880er Jahre)

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von deutscher Sitte abweichen. Die Reformgemeinde war nur klein, aber sie bestand fast ganz aus Angehörigen der Oberschicht, reichen und gebildeten Großkaufleuten, Ärzten, Anwälten, Wissenschaftlern aller Fächer. Die Gemeinde mußte auch notwendigerweise klein bleiben, ja ich frage mich, wie sie überhaupt ein Jahrhundert existieren konnte, bis sie im Dritten Reich sinnlos wurde und zusammenbrach. Denn es fehlte ihr am natürlichen Nachwuchs, weil die Kinder ihrer Mitglieder sich gar zu oft mit Christen verheirateten oder selber zum Christentum übertraten. So versteht es sich, daß die Reform allen orthodoxen Juden als eine Ketzergemeinschaft erschien; wahrhaftig klaffte ja der Spalt zwischen ihnen und diesen Abtrünnigen breiter als zwischen Protestanten und Katholiken. Offiziell und in einigen administrativen Punkten mochte die Reform ein selbständiger Annex der »Großen jüdischen Gemeinde« in Berlin sein, in Wahrheit war sie doch ein ganz isoliertes Gebilde, das von den übrigen Juden im günstigsten Fall mit Achselzucken betrachtet wurde. Auf dem allgemeinen jüdischen Friedhof im nördlichen Vorort Weißensee gibt es eine Ehrenreihe für die Gräber der Geistlichen: in diese Reihe wurden die Prediger der Reform nicht aufgenommen. Und wenn sie bei Lebzeiten ihr Amt hätten verlassen wollen, so hätten sie nie eine andere Kanzel gefunden.

Bei dieser Kultgemeinschaft also mit dem rein deutschen Kult hatte sich Vater um die Stelle des zweiten Predigers beworben. Bekam er sie, so war sie für ihn die Erlösung aus aller Not und die reine Seligkeit – mindestens konnte er damals nicht wissen, daß es die reine Seligkeit nun doch nicht sein würde; bekam er sie nicht, so war er geächtet und mochte sehen, wie und wo er sich eine neue Existenz aufbaute. Er war aber damals schon über fünfzig Jahre alt, paßte in keinen andern Beruf als den seinen und trug noch Verantwortung für fünf unversorgte Kinder. Sein Leben lang ist mir Vater als ein schwankender, oft allzu opportunistischer Charakter erschienen. Heute weiß ich, wie tapfer er um seines Ideals willen im entscheidenden Augenblick seine bürgerliche Existenz aufs Spiel gesetzt hat. Ich habe in meinem eigenen Leben trotz des bißchen Flandern nichts Ähnliches aufzuweisen. Ich habe im Jahre 1933 unter sophistischer Beruhigung meines klarsehenden Gewissens der Regierung Hitler den Treueid geschworen, ich habe an meinem gemein gewordenen Amt geklebt, bis man mich hinausgeworfen hat – und ich sollte über Vaters Frühstück am Versöhnungstag zu Gericht sitzen?

Er war, wie gesagt, von stattlicher Erscheinung, er war ein prachtvoller Kanzelredner gerade für ein gebildetes Publikum, reich, wenn nicht an eigenen Gedanken, so doch an ungemeiner, geschmackvoll verwendeter Belesenheit, die Worte strömten ihm mühelos, sein tragendes Organ war biegsam und umfassend: So wurde er denn gewählt und telegraphierte sein »Gottlob« aus tiefstem Herzen.

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