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Erinnerungen eines jüdischen Kindes an die „Konvertierung” seiner Familie von der Orthodoxie zum Reformjudentum (1880er Jahre)

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armselige Frau wartet ängstlich auf die Entscheidung des Rabbiners. Vater stochert, er besieht den Magen, er besieht die Frau, er entfernt den Nagel, er scheint sehr tief nachzudenken, er entscheidet mit tiefstem Ernst: »Sie dürfen die Gans ruhig auf den Tisch bringen, liebe Frau, Gott hat nichts dagegen.« Und die Frau zieht beglückt ab. Das ist mir eine liebe Erinnerung. Weniger lieb ist mir eine andere. Den ganzen Versöhnungstag über hat der strenggläubige Jude zu fasten, nicht nur behaglich bei Fisch und Mehlspeise wie der Katholik, sondern wirklich zu fasten, ohne einen Bissen noch einen Tropfen. Wenn er den ganzen Tag über betend im Gotteshaus verharrt, wird er am ehesten mit seinem Hunger fertig. Vater ist ein kräftiger Mann, ein starker Esser. Er hat an diesem Tag zweimal zu predigen, er hat viele Gebete laut zu sprechen; soll er seine Aufgabe mit wirkungsvoller Eindringlichkeit zu entschiedener Erbauung der Gemeinde durchführen, so muß er gut beisammen, oder um es ganz deutlich zu sagen, so muß er in Form sein. Er nimmt also am Morgen im verschlossenen Zimmer ein nachhaltiges Frühstück zu sich. Nur Mutter darf das wissen – aber natürlich wissen es die Kinder auch. Wie oft habe ich mich in früheren Jahren hierüber sittlich entrüstet! Ich bringe diese Entrüstung längst nicht mehr auf; ich wünschte, ich brauchte keinem Menschen schlimmere Sünden nachzusagen als meinem Vater. Die Orthodoxie der Gemeinde aber bedeutet für ihn nicht nur eine Fessel und innere Qual, sondern auch in steigendem Maße eine Gefahr. Er ist des Liberalismus verdächtig, und seine Söhne, für deren Erziehung er verantwortlich ist, führen in Berlin – das weiß man natürlich – kein frommes Leben. Die Vita vor Georgs Doktordissertation beginnt mit den Worten: »Ich bin als Sohn eines Landgeistlichen geboren.« Das ist eine Verschleierung des Judentums und läßt Schlimmes erwarten. Noch nehmen die Söhne auf Vaters Stellung einige Rücksicht; aber wie lange wird man sich in Bromberg mit dieser bloßen und fadenscheinigen Rücksichtnahme begnügen?

Und nun hatte sich für Vater eine Möglichkeit aufgetan, der äußeren und inneren Bedrängnis zu entkommen. Eine blendende Möglichkeit, aber auch die gefährlichste. In Berlin gab es eine in Deutschland und, wenn ich nicht irre, in der Welt einzigartige jüdische Kultgemeinschaft. Das war die seit 1840 bestehende jüdische Reformgemeinde, von ihren Mitgliedern und ihren Gegnern meist kurz »die Reform« genannt. Hier hat der Wille zum Deutschtum seinen radikalsten Ausdruck gefunden, hier ist nur der religiöse Kern des Judentums bewahrt, er ganz allein – die Strenggläubigen sagen, hier ist das Judentum vernichtet. Der Gottesdienst findet bis auf wenige Worte in deutscher Sprache, er findet am Sonntag, nicht am Sonnabend statt, die Gebete sind alle deutsch, die Orgel spielt zum deutschen Chorgesang. Die Betenden sitzen ohne Kopfbedeckung, Männer und Frauen beisammen. Der Knabe wird nicht mit dreizehn Jahren unter die Männer der Gemeinde aufgenommen, sondern Mädchen und Knaben werden als Fünfzehn-, Sechzehnjährige gemeinsam am Ostersonntag eingesegnet. Das Fahr- und Schreibverbot der Sabbatheiligung und alle Speisegesetze fallen fort. In nichts, wirklich in gar nichts will man

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