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Ein jüdischer Rabbiner in einem preußischen Lesezirkel (1880er Jahre)

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Er fühlte sich ganz als Deutscher, als Reichsdeutscher. Er hatte politische Interessen und war von den Ergebnissen des sechsundsechziger und des siebziger Krieges tief befriedigt. Er war liberal im Sinn des damals meistgelesenen Romanschriftstellers Friedrich Spielhagen, das heißt, indem er sich zum fortschrittlichen Bürgertum dem, wie man damals sagte, Junkertum gegenüber bekannte, ohne sich über die harten, allzu materialistischen Probleme des Sozialpolitischen und Nationalökonomischen den Kopf zu zerbrechen. Der Buchhändler Schaeffer, ein genialischer und wenig geschäftstüchtiger Mann, gab ein gemäßigt liberales und gut nationales Blättchen heraus. Vater hat auf seine Art daran mitgearbeitet, indem er passende Artikel aus den großen Berliner Zeitungen herausschnitt und exzerpierte. An selbständige Äußerungen oder Formungen hat er sich nie gewagt (während sich der Primaner Georg zu gelegentlichen kleinen Theaterkritiken erkühnte). Daß es eine Spannung zwischen seinem Deutschtum und seinem Judentum, seiner Pflicht als Rabbiner, geben könnte, darauf ist Vater, mindestens in Landsberg, sicherlich niemals verfallen. Und ich glaube, die Landsberger Jahre waren bei all ihrer Kargheit die glücklichsten seines Lebens.

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Vater betrachtete es als eine Art Ruhm, schon die Staatszugehörigkeit zum Norddeutschen Bund erhalten und die Reichsgründung als preußischer Bürger miterlebt zu haben. Wenn er in Gegenwart der Kinder etwas Geheimes zu Mutter sagen wollte, sprach er wohl ein paar Worte tschechisch, aber er blickte auf die Tschechen mit einiger Verachtung als auf ein fremdes und unkultiviertes Volk herab, und auch die deutschen Österreicher nahm er nicht ganz für voll. Dagegen habe ich ihn oft mit Wärme von den Ungarn sprechen hören, in denen er die Freiheitskämpfer der achtundvierziger Revolution sah. Er empfand überhaupt keine Feindschaft gegen irgendwelche fremden Völker, aber sein eigenes Volk waren ihm eben die Deutschen, mit der deutschen Kultur vermochte sich keine andere zu messen, und der eigentliche Träger des Deutschtums war das Reich und nicht das wirre und buntscheckige Österreich. Wer drüben wohnte, der lebte, der dachte und fühlte nicht ganz wie wir, und wenn er uns auch blutsverwandt war. Was war denn schon das Blut – auf die geistige Zugehörigkeit kam alles an, das unterschied den Menschen vom Tier.



Auszug aus: Victor Klemperer: Curriculum vitae. Erinnerungen 1881-1918 (2 Bände; Herausgegeben von Walter Nowojski). © Aufbau-Verlag GmbH: Berlin, 1996, Bd. 1, S. 16-19.

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