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Veränderungen in der deutschen Umgangssprache (1884)

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Eigentümlich ist auch, daß manche Benennungen von Personen in ihrer Geltung entartet sind. Früher konnte man unbedenklich jemanden einen „Schulmeister“ oder einen „Advokaten“ nennen. Beide Bezeichnungen haben etwas Gehässiges angenommen. Man muß, will man nicht anstoßen, Schullehrer und Anwalt sagen. Auch das Wort „Schullehrer“ ist nicht mehr ganz beliebt; unsere Schulmonarchen nennen sich meist nur noch „Lehrer“. Die Diener in unsern Gasthöfen wurden früher „Markör“ genannt; heute heißen sie „Kellner“, unter welchen namentlich der Oberkellner in seiner Würde strahlt. Überhaupt heftet sich das Wörtchen „Ober“, auch außerhalb des öffentlichen Dienstes, wo es ja eine große Rolle spielt, jetzt gern an Titulaturen jeder Art (z.B. „Obergärtner“). Zu den entarteten Worten gehört ferner das Wort „Schuster“. Wir bewegen uns zwar noch „auf Schusters Rappen“, aber unsre Stiefel verfertigt der „Schuhmacher“. Auch unsre Schneider nennen sich gern „Kleidermacher“. Das gute deutsche Wort „Bauer“ scheint einem ähnlichen Schicksal zu verfallen. Manche unsrer Bauern nennen sich jetzt schon „Landwirte“ oder „Gutsbesitzer“. Zum Unterschiede davon nennt sich dann der frühere Gutsbesitzer jetzt womöglich „Rittergutsbesitzer“; der frühere Pächter (sonst „Herr Kondukter“ genannt) womöglich „Domänenpächter“. Eine „Dienstmagd“ will heute niemand mehr sein. Unsre Küchendamen nennen sich „Köchin“, „Wirtschafterin“, „Hausmädchen“ usw. Natürlich steigern sich mit dem Titel auch die Ansprüche, die jeder an das Leben macht.

Die heutige Umgangssprache liebt es auch oft, mit den stärksten Tinten zu malen. Die Schülerin einer höheren Töchterschule z.B. „wäre so schrecklich gern gekommen, wenn nicht etc.“. Sie spricht von ihrer Freundin: „Die Else N.N. ist furchtbar nett.“ In der Gesellschaft erschien „ein riesiger Baumkuchen.“ Der Pianist spielte „mit einer geradezu verblüffenden Technik“. Auch „stupende“, „grandiose“, „kolossale, phänomenale Leistungen“ sind an der Tagesordnung, wofür dann der Künstler einen „fabelhaften Applaus“ erntet. „Massenhaft“ ist auch gar vieles. Um ihre Befriedigung auszudrücken, sprechen schon vierjährige Kinder von „reizend“ und „goldig“. Das alles kam früher nicht so vor.



Quelle: Otto Bähr, Eine deutsche Stadt vor hundert Jahren. Neudruck des Buches, Eine Stadt vor sechzig Jahren. Mit einer Einleitung von Fedor v. Zobeltwitz. Berlin, 1926, S. 123ff.

Abgedruckt in Werner Pöls, Hg., Deutsche Sozialgeschichte 1815-1870. Ein historisches Lesebuch. 4. Aufl. München: C.H. Beck, 1988, S. 34-38.

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