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Veränderungen in der deutschen Umgangssprache (1884)

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Daneben waren aber auch die der dritten Person, und zwar sowohl des Singulars als des Plurals, entnommenen Formen der Anrede in Übung, sodaß man also im Deutschen gleichzeitig vier Formen der Anrede hatte. „Er“ wurde ein solcher genannt, den man noch nicht einmal des „Ihr“ würdigte. Namentlich sagte man zu Dienstboten meist „Er ist etc.“ („Sie ist etc.“). Auch Fürsten titulirten im vergangenen Jahrhundert ihre Untergebenen, selbst höher gestellte, vielfach mit „Er“. Die Anrede „Sie“ (im Plural) wurde dagegen allgemein denen gegenüber gebraucht, welche man volle Ehre erweisen wollte. Im Laufe der letzten Menschenalter sind nun die Formen „Ihr“ und „Er“ mehr und mehr geschwunden und nur „Du“ und „Sie“ üblich geblieben. Steht man mit jemandem nicht auf so vertrautem Fuße, daß man ihn „duzen“ kann, so verlangt er mit „Sie“ angeredet zu werden. So wenigstens in der Stadt. Eigentümlich aber ist, daß diese Respektsanrede früher sogar eine größere Ausdehnung gewonnen hatte, als sie jetzt besitzt. So nannten die meisten, deren Erziehung in den Anfang dieses Jahrhunderts fiel, ihre Eltern noch „Sie“, was heute ganz außer Übung gekommen ist.

Bei unsern Bauern ist die Anrede „Du“ weit verbreiteter als in der Stadt, was teilweise seinen natürlichen Grund darin hat, daß die Bewohner eines Dorfes sich untereinander weit näher stehen. Mit „Du“ und mit dem bloßen Vornamen wird unter andern auch der Dorfjude angeredet, während dieser den Bauer „Ihr“ oder „Sie“ nennen muß. Das „Sie“ hat der Bauer nur für besondere Respektspersonen; für den Pfarrer, den Bürgermeister, auch für die Leute in der Stadt. Untereinander nennen sich die Bauern, sofern sie nicht „Du“ sagen, „Ihr“ (hessisch „Dee“), mit der zweiten Person des Plurals. So nennen auch noch die Kinder ihre Eltern; öfters auch die jüngere (zweite) Frau ihren älteren Mann.

Früher nannte man auch allgemein die Eltern Vater und Mutter. Heute werden sie in gewissen Kreisen selbst von solchen, die längst den Kinderjahren entwachsen sind, nur noch „Papa“ und „Mama“ genannt. Vielleicht ein Fortschritt im Sinne eines bekannten Bibelverses.

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