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Victor Böhmerts Kritik am traditionellen, restriktiven Zunftwesen (1858)

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Die vorstehenden Angriffe werden von den Gegnern der Gewerbefreiheit auch gegenwärtig nur wiederholt und höchstens noch einige Kraftausdrücke beigefügt. Prüft man zunächst im Allgemeinen den Charakter dieser Gründe und Ausdrücke, so muß man sich sofort davon überzeugen, daß die Zunftanhänger über einen reichlichen Vorrath von Schlagwörtern verfügen. Das Schreckbild „Proletariat“ spielt die Hauptrolle. Es schwebt wie ein dunkler Schatten über der allerdings den Meisten auch dunklen Idee eines gewerbefreiheitlichen Zustandes. Das weitere Gefolge bilden: Schleuderpreise, Hungerlöhne, Untergang des Mittelstandes, Ausbeutung der Armen durch die Reichen, Uebermacht des Capitals, mörderische Concurrenz, unsolide, betrügerische Arbeit, Demoralisation. Doch damit sind die Vorwürfe noch nicht erledigt. Man klagt noch über Vereinzelung aller Bestrebungen, Ertödtung jeder Selbstständigkeit und jedes brüderlichen, genossenschaftlichen Strebens unter den Handwerkern“ und man kommt am Ende bei dem „socialistischen Staat“ oder bei ernstlichen Drohungen vor der „Revolution“ an. Dieser glänzende Aufbau von Stichwörtern und Phrasen besticht leider sehr oft auch denkende und gebildete Männer, namentlich wenn die unklare Auffassung des heutigen Wirthschaftslebens in romantische Schilderungen und Lobreden der Vergangenheit verwebt wird. Diejenige Forschung, welche nach Wahrheit ringt, hat nicht über solche Schlagwörter zu verfügen, sie muß nach Gründen und Beweisen, nach Thatsachen und Beobachtungen suchen, sie muß diese sorgfältig abwägen und erst nach einer Reihe von Schlüssen das Endurtheil als begründet hinstellen. Möchten daher die nachstehenden Aufsätze von allen den Lesern lieber überschlagen werden, die nicht geduldig genug sind, uns auf diesem schwierigen Pfade der Beweisführung zu folgen!

II. Was leistet die Gewerbefreiheit dem Staate? Schafft sie wirklich ein Proletariat?

Die Gewerbefreiheit wird in politischer, gewerblicher und sittlicher Hinsicht als gefährlich dargestellt. Wir beginnen unsere Erörterungen mit einer Prüfung der politischen Bedenken, indem wir zunächst dem heraufbeschworenen Schreckbilde „Proletariat“ schärfer ins Auge blicken.

Was heißt denn eigentlich Proletariat? Was sind Proletarier? Das Wort stammt aus dem Lateinischen. Proletarii hießen die armen Einwohner Roms, die, nach Livius, unter eilftausend Asses (Aß heißt „eine römische Kupfermünze“) im Vermögen hatten und dem Staate nicht mit Geld, sondern bloß mit ihren Kindern (ihrer proles) dienen konnten. Man hat den ursprünglichen Sinn des Wortes meist vergessen und bezeichnet damit jetzt im Allgemeinen Menschen der untersten und ärmsten Volksclasse. Es ist nun leider eine Thatsache, daß es, wie einst in Rom, so auch jetzt noch in jeder bürgerlichen Gesellschaft recht viele arme Menschen giebt. Als das beste Mittel gegen Armuth wird aber überall die „Arbeit“ anerkannt. Mit der Arbeit soll jeder Mensch etwas Nützliches schaffen und sich etwas verdienen. Je mehr Nützlichkeiten ein Mensch schaffen und je mehr er verdienen kann,

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