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Ernst Dronke: Auszüge aus Berlin (1846)

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In dem bewegten öffentlichen Leben zeigt sich das Wesen der großen Stadt, und das großstädtische Element ist vielleicht der einzige, aber auch der schätzbarste Vorzug, welchen der Aufenthalt in Berlin gewährt. Die verschiedenen Parteien stellen Berlin je nach ihrer Parteiansicht dar, und es ist oft lächerlich, solche Urteile von Leuten zu hören, welche die Stadt nie gesehen.

„Das ist das moderne Babel", sagt der Pietist, sich bekreuzigend, „der Brandkessel des Radikalismus, der Sündenpfuhl der Demoralisation, wo alle Bande bereits gelöst sind, und den Leuten nichts heilig ist, nicht Gott, nicht Kirche, nicht Vaterland, nicht einmal die heiligsten Familienbande, nicht Ehe, nicht Pflichtgefühl."

„Das ist der Herd der Reaktion", sagen die Freisinnigen, „wo die Regierung den Pietismus hätschelt, die freie Wissenschaft unterdrückt und ihre Kreaturen vor jedem Ehrliebenden bevorzugt. Hier nistet das Heer von Beamten, welches jeden Rechtsgang unmöglich macht, hier ist das Nest, wo die sauberen Maßregeln gegen den Fortschritt der Zeit ausgebrütet werden, wo die Polizeispione jeden verfolgen, wo ein übermütiger Adel sich breitmacht, wo man die Leute auf den Gassen verwundet und bald die russische Knute einführt."

„Hier ist die Stadt des Preußentums", sagte der gemütliche Süddeutsche, „wo alles nörgelt und krittelt, wo alles altklug ist und man nur kalten Verstand findet, aber kein Gemüt!"

„Es ist die Stadt des Preußentums", fügt der Rheinländer hinzu, „wo die protestantische Regierung sich so schön in dem Wesen eines nüchternen Geistes spiegelt."

„Es ist die Pflanzschule des Pietismus, wo man englische Sabbatstrenge einführt, Magdalenenstifte gründet, bald auch katholische Prozessionen und Kirchenbußen anstellen wird."

„Es ist die Stadt der Entartung, wo die Regierung selbst mit den Leuten die schonendste, verderblichste Nachsicht übt, wo die Gläubigen öffentlich in den Zeitungen verhöhnt werden dürfen, wo ich in Wirtshäusern irreligiöse Lieder singen höre."

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