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Wilhelm Heinrich Riehl: Auszug aus Land und Leute (1851)

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Noch bedenklicher aber erscheint es, daß hier seit dem Dreißigjährigen Kriege die Zahl der Familien in den Dörfern häufig gewachsen, die Häuserzahl aber vermindert ist. Vor jener Zeit wohnte fast jede Familie im eigenen Haus, jetzt wohnt bereits eine bedeutende Zahl zur Miete. Zur Miete wohnen ist aber durchaus nicht bäuerlich; in einem rechtschaffenen Dorfe muß jede Familie ihr eigenes Haus allein bewohnen und wäre es auch nur eine Hütte. So wie Mietsleute in die Häuser ziehen, zieht auch die Stadt aufs Land.

Wenn man zum Beispiel am Mittelrhein eine ganze Reihe von Ortschaften findet, bei denen sich's gar nicht mehr genau unterscheiden läßt, ob sie eigentlich Städte oder Dörfer sind, so sind das Zwittergestalten, die der Teufel gesegnet hat, Denkmale politischer Ohnmacht und sozialer Erschlaffung, Urkunden für die Ausgelebtheit des Landes und die Widernatürlichkeit seiner Zustände. Solche Dorfstädte sind dann in der Regel nicht der Sitz von Bürgern und Bauern nebeneinander, sondern vielmehr von bürgerlichen und bäuerlichen Proletariern. „Wenn alle Bauern der Stadt in den Acker gegangen sind, dann ist kein Bürger mehr zu Hause."

Mit den ruinierten Dörfern stehen in den süd- und mitteldeutschen Kleinstaaten zusammen die künstlichen Städte. Nirgends gibt es so viele „künstliche Städte", die man, der Natur und Geschichte trotzend, dem Lande zu Stapelplätzen des geistigen und materiellen Verkehrs aufgezwungen hat, als in Deutschland, nirgends so viele Städte, welche eine Bedeutung ertrotzen und erheucheln, zu der sie nicht berechtigt sind, welche durch die Launen einzelner oder auch auf Grund verkehrter Staatskunst zu reinen Treibhausblüten entwickelt wurden und werden. Diese künstlichen Städte haben überall die natürlichen Bahnen des Handels und der Industrie verrückt, sie haben den wirtschaftlichen Schwerpunkt mit dem politischen in Widerstreit gebracht und dadurch nicht wenig die Grundfesten des materiellen Flores der Nation erschüttern helfen. Wohin sich unser Blick auf der Karte Deutschlands wendet, da sehen wir uralte Knotenpunkte des Handels und Gewerbes in die Ecke geschoben, während man daneben Städte zu Landesmittelpunkten gemacht und mit dem Aufgebot aller künstlichen Hilfsquellen in die Höhe getrieben hat, welche ihrer ganzen Lage gemäß höchstens ein Recht hätten, als Dörfer oder Landstädte zu figurieren. Das Kapitel von den künstlichen Städten ist wichtiger, als man glauben mag, denn es rührt an den wundesten Fleck unsrer verschrobenen Staatenbildung, es hängt ganz eng zusammen mit dem großen Kapitel von unsrer materiellen Ohnmacht und Zersplitterung und weiß beiläufig von einer furchtbaren Summe tiefbegründeten Grollens und Schmollens zu erzählen.

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