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David Friedrich Strauss: Schlußbetrachtung, Das Leben Jesu (um 1835)

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Maßgabe ihrer Naturbeschaffenheit, ihrer klimatischen und geschichtlichen Verhältnisse, eine verschiedene Gestaltung, und läßt uns im Verlauf der Geschichte einen Fortschritt bemerken. Der Römer dachte sich den Menschen, wie er sein soll, anders als der Grieche, der Jude anders als beide, der Grieche nach Sokrates anders und unstreitig vollkommener als vorher. Jeder sittlich hervorragende Mensch, jeder große Denker, der das handelnde Wesen des Menschen zum Gegenstande seines Forschens machte, hat in engeren oder weiteren Kreisen geholfen, jene Idee zu berichtigen, zu ergänzen, weiter zu bilden. Und unter diesen Fortbildnern des Menschenideals steht in jedem Falle Jesus in erster Linie. Er hat Züge in dasselbe eingeführt, die ihm vorher fehlten, oder doch unentwickelt geblieben waren; andere beschränkt, die seiner allgemeinen Gültigkeit im Wege standen; hat demselben durch die religiöse Fassung, die er ihm gab, eine höhere Weihe, durch die Verkörperung in seiner eigenen Person die lebendigste Wärme gegeben; während die Religionsgesellschaft, die von ihm ausging, diesem Ideale die weiteste Verbreitung unter der Menschheit verschaffte. Freilich ging die Religionsgesellschaft von ganz andern Dingen als von der sittlichen Bedeutung ihres Stifters aus, und brachte diese daher zunächst nichts weniger als rein zur Darstellung – in der einzigen Schrift unseres Neuen Testaments, die vielleicht von einem unmittelbaren Schüler Jesu herrührt, der Offenbarung Johannis, lebt ein Christus, von dem für das Ideal der Menschheit wenig zu gewinnen ist; aber die Züge der Duldung, der Milde und Menschenliebe, die Jesus zu den herrschenden in jenem Bilde gemacht hat, blieben der Menschheit doch unverloren, und sind es eben gewesen, aus denen alles das, was wir jetzt Humanität nennen, hervorkeimen konnte.

Indeß, so hoch immer Jesus unter denjenigen steht, welche der Menschheit das, was sie sein soll, reiner und deutlicher vorgebildet haben, so war er doch hierin weder der erste noch der letzte, sondern, wie er in Israel und Hellas, am Ganges und Oxus, Vorgänger gehabt hat, so ist er auch nicht ohne Nachfolger geblieben, vielmehr ist auch nach ihm jenes Vorbild noch weiter entwickelt, allseitiger ausgebildet, seine verschiedenen Züge mehr in's Gleichgewicht gegen einander gebracht worden. Es ist nicht zu verkennen, daß in dem Muster, wie es Jesus in Lehre und Leben darstellte, neben der vollen Ausgestaltung einiger Seiten, andere nur schwach umrissen, oder auch gar nicht angedeutet sind. Voll entwickelt findet sich Alles, was sich auf Gottes- und Nächstenliebe, auf Reinheit des Herzens und Lebens der Einzelnen bezieht: aber schon das Leben des Menschen in der Familie tritt bei dem selbst familienlosen Lehrer in den Hintergrund, dem Staate gegenüber erscheint sein Verhältniß als ein lediglich passives; dem Erwerb ist er nicht blos für sich, seines Berufs wegen, abgewendet, sondern auch sichtbar abgeneigt, und Alles vollends, was Kunst und schönen Lebensgenuß betrifft, bleibt völlig außerhalb seines Gesichtskreises. Daß dieß wesentliche Lücken sind, daß hier eine Einseitigkeit vorliegt, die theils in der jüdischen Volksthümlichkeit, theils in den Zeitverhältnissen, theils in den besonderen Lebensverhältnissen Jesu ihren Grund hat, sollte man nicht läugnen wollen, da man es nicht läugnen kann. Und die Lücken sind nicht etwa der Art, daß nur die vollständige Durchführung fehlte, während der regelnde Grundsatz gegeben wäre; sondern für den Staat insbesondere, den Erwerb und die Kunst fehlt von vorneherein der rechte Begriff, und es ist ein vergebliches Unternehmen, die Thätigkeit des Menschen als Staatsbürger, das Bemühen um Bereicherung und Verschönerung des Lebens durch Gewerbe und Kunst, nach den Vorschriften oder dem Vorbilde Jesu bestimmen zu wollen. Sondern hier war eine Ergänzung, sowohl aus andern Volksthümlichkeiten, als aus andern Zeit-, Staats- und Bildungsverhältnissen heraus erforderlich, wie sie zum Theil schon rückwärts in demjenigen lag, was Griechen und Römer in dieser Hinsicht vor sich gebracht hatten, zum Theil aber der weiteren Entwicklung der Menschheit und ihrer Geschichte vorbehalten blieb.

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