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David Friedrich Strauss: Schlußbetrachtung, Das Leben Jesu (um 1835)

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Man könnte sagen und hat oft gesagt, das Ungenügende der evangelischen Lebensnachrichten über Jesum ergänze sich reichlich dadurch, daß wir sein Werk, die christliche Kirche, noch vor uns haben, und nun von diesem auf seinen Urheber zurückschließen können. So wissen wir ja z. B. auch von Shakespeare wenig Geschichtliches, und manches Fabelhafte wird ihm nachgesagt; wir lassen uns das aber wenig anfechten, da seine Dichtungen uns in den Stand setzen, uns das Bild seiner Persönlichkeit in voller Deutlichkeit herzustellen. Die Vergleichung wäre treffend, wenn wir das Werk des galiläischen Propheten ebenso aus der ersten Hand hätten, wie die Werke des britischen Dichters. Aber jenes Werk ist durch gar viele Hände hindurchgegangen, die sich aus Einschiebungen, Auslassungen und Umänderungen aller Art kein Gewissen gemacht haben; die christliche Kirche ist schon in ihrer frühesten Gestalt, wie sie im Neuen Testament erscheint, bereits durch so viele andere Factoren, als die Persönlichkeit Jesu mitbestimmt, daß der Rückschluß von ihr auf ihn ein höchst unsicherer ist. Schon der auferstandene Christus, auf welchen die Kirche gegründet wurde, ist ja ein anderer, als der Mensch Jesus gewesen war, und von hier aus bildete sich dann die Vorstellung von ihm und seinem Erdenleben, wie die Gemeinde selbst, in einer Weise um, daß sehr die Frage ist, wenn Jesus etwa um die Zeit der Zerstörung Jerusalems wiedergekommen wäre, ob er in dem Christus, den man damals in der Gemeinde predigte, sich wieder erkannt haben würde.

Ich glaube nicht, daß es so schlimm steht, wie schon behauptet worden ist, daß wir von keinem einzigen der Aussprüche, die in den Evangelien Jesu in den Mund gelegt werden, gewiß wissen können, ob er denselben wirklich gethan hat. Ich glaube, daß es deren gibt, die wir mit aller der Wahrscheinlichkeit, über welche ja in geschichtlichen Dingen ohnehin nicht hinauszukommen ist, Jesu zuschreiben dürfen, und habe ohne die Zeichen bemerklich zu machen gesucht, woran wir solche erkennen können. Aber sehr weit erstreckt sich diese der Gewißheit nahekommende Wahrscheinlichkeit nicht, und mit den Thaten und Begebenheiten des Lebens Jesu sieht es, seine Reise nach Jerusalem und seinen Tod ausgenommen, noch übler aus. Weniges steht fest, und gerade von demjenigen, woran der Kirchenglaube sich vorzugsweise knüpft, dem Wunderbaren und Uebermenschlichen in den Thaten und Schicksalen Jesu, steht vielmehr fest, daß es nicht geschehen ist. Daß nun aber von dem Glauben an Dinge, von denen zum Theil gewiß ist, daß sie nicht geschehen sind, zum Theil ungewiß, ob sie geschehen sind, und nur zum geringsten Theil außer Zweifel, daß sie geschehen sind, daß von dem Glauben an dergleichen Dinge des Menschen Seligkeit abhängen sollte, ist so ungereimt, daß es heutzutage keiner Widerlegung mehr bedarf.

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