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Daniel Schenkel: Auszüge aus Der Deutsche Protestantenverein (1868)

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Eine kirchliche Erneuerung; denn darüber kann kein Streit sein, daß unsere Kirche einer solchen bedarf. Sie ist in jeder Beziehung hinter der Zeit zurückgeblieben. Wenn ihre behördlichen Organe noch immer den kirchlichen Schwerpunkt in der überlieferten Lehre, dem sog. „Bekenntnisse", suchen, so hat die neuere Wissenschaft längst dargethan, daß der Glaube und nicht die Lehre, das Leben und nicht die theologische Formel das Wesen des Protestantismus bildet, und daß der überlieferte Lehrbegriff außerdem vor dem Richterstuhle der strengen Prüfung nicht mehr Stich hält, weil er auf durchaus unhaltbar gewordene Voraussetzungen gebaut ist. Er hat seine wesentlichen Stützen: an der Inspirationslehre des 17. Jahrhunderts, und diese ist wissenschaftlich auf allen Punkten durchbrochen; an der Christuslehre der altkatholischen Kirchenversammlungen im 4. und 5. Jahrhundert, und diese steht mit der richtig verstandenen Evangelienlitteratur und mit einer ächt geschichtlichen Auffassung der Person Christi in unauflöslichem Widerspruche; an dem sogenannten athanasianischen Glaubensbekenntniß, welches die Lehre von drei göttlichen Personen innerhalb eines göttlichen Wesen, bei Strafe des ewigen Feuers, jedem zur unerläßlichen Pflicht macht, und dieses muß, um angenommen zu werden, den Anspruch auf völlige Unterdrückung des vernünftigen Denkens erheben; an der Vorstellung, daß die Theologen den Glauben der Gemeinde zu bestimmen und als die Mündigen die unmündigen Laien zu regieren hätten, und diese Vorstellung ist nicht nur unprotestantisch, sondern sie streitet auch mit dem großen neutestamentlichen Grundsatze, daß alle Christen priesterliche Rechte und freie Gewissen haben sollen. Darum bedarf die evangelische Kirche gegenwärtig dringend einer Erneuerung „im Geiste evangelischer Freiheit". Niemand darf gehindert sein, das Evangelium nach seinem eigenen besten Wissen und Gewissen zu verstehen und zu bekennen; Niemand, namentlich keine Kirchenbehörde, soll eine einzige Form, das Evangelium zu verstehen und zu bekennen, für die ausschließlich berechtigte erklären, und alle übrigen verurtheilen und unterdrücken dürfen. Das wäre ein Gewissens- und Glaubenszwang, der vor dem römisch-katholischen Geistesdrucke nicht nur nichts voraus hätte, sondern noch schlimmer als dieser, weil er eine Verläugnung der protestantischen Prinzipien unter dem Aushängeschild des Protestantismus selbst wäre.

Der Protestantenverein strebt die Erneuerung der protestantischen Kirche „im Einklang mit der gesammten Culturentwicklung unserer Zeit" an. Eben deshalb, weil er keine fertige Dogmatik und kein abgeschlossenes Kirchenthum kennt, sondern die Form der Lehre und die Einrichtungen der Kirche als das Erzeugniß einer bestimmten Zeit und der innerhalb dieser sie beherrschenden Ideen betrachtet, kann er auch nicht zugeben, daß die Lehrentwicklung und Verfassungsbildung der Kirche an einem bestimmten Punkt abschließe und mit der darauf gefolgten Zeitbildung in Widerspruch trete. Die herkömmliche Theologie geht zwar von der Voraussetzung aus, daß die Kirche einen übernatürlichen Ursprung habe, wogegen die Cultur etwas Natürliches sei. Die aus dieser Voraussetzung gezogene Schlußfolgerung ist sehr einfach. Das Natürliche hat sich dem Uebernatürlichen unterzuordnen; die Cultur ist nur so weit berechtigt, als die Theologen mit ihr einverstanden sind; wenn daher die Theologie in Gemäßheit ihrer übernatürlichen Erleuchtung und der Theorie von der göttlichen Autorität der Bibel zufolge sich zu der Annahme genöthigt sieht, daß die Erde stille steht und die Sonne sich um sie bewegt, so ist es das Merkmal einer falschen Bildung, wenn das Gegentheil behauptet wird. Der Protestantenverein anerkennt seinerseits die volle Berechtigung der modernen Wissenschaft, ihre eignen Bahnen zu gehen, und ist der Meinung, daß die religiösen Wahrheiten ganz unabhängig sind von den wissenschaftlichen Ergebnissen. So wie dieser Satz einmal in der Kirche Anerkennung gefunden hat, so ist auch der Friede zwischen dem Christenthum und der Cultur geschlossen. Wenn die Cultur in dem Christenthum vielfach einen Feind erblickt, so hat die

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