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Auszüge aus zwei Predigten von Friedrich August Tholuck: „Was ist die menschliche Vernunft wert?” (um 1840) und „Wann ist die größere bürgerliche Freiheit für das Volk ein Glück?” (1848)

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Gerade darum nun aber, weil ein solcher Heiland uns gegeben ist, wie dieser Christus, können und dürfen wir auch zu denen nicht halten, die dem Menschen durch ihre eigene Vernunft und Kraft ein gesundes Auge geben wollen. Daß keiner von allen Sterblichen mit einem gesunden, inneren Auge, mit einer gesunden Vernunft schon geboren werde, das müssen am Ende alle gestehen, welcher Partei sie auch folgen. O wir brauchen uns ja das innere Auge nur vorzustellen, was es sein sollte: ein Stern in der Nacht des Lebens ohne Aufgang, ohne Niedergang, ohne Wechsel des Lichts und der Finsternis; und wer soll es nicht gestehen, diese Vernunft, in der alle Launen, Schwächen und Gebrechen eines kranken Herzens sich spiegeln und wiederscheinen, daß die doch nicht ein gesundes Seelenauge sein kann. Eine unumschränkte Königin wäre diese Vernunft, die doch durch jeden starken Windzug der Leidenschaft von ihrem Throne gestoßen wird? Versucht es nur, ihr thörichten Kinder der Zeit, wie etliche von euch es angefangen haben, dem Volke zu predigen, daß diese Vernunft gesund und eine unumschränkte Königin sei, die keines Wortes von Gott mehr bedürfe, um sie zu regieren, und ihr werdet's bald erfahren, wie diese Königin den niedrigsten Leidenschaften dienen wird. Es wird das Volk die Stimme seiner Leidenschaft mit der Stimme seiner Vernunft verwechseln, seine fleischlichen Begierden werden, wenn's hoch kommt, mit edeln Namen sich schmücken, die Roheit wird Kühnheit heißen, die Fleischeslust Genuß der Menschenrechte, der Abfall von Gott wird Unabhängigkeit, die Zügellosigkeit wird Freiheit heißen. Schon habe ich es in diesen Tagen auf der offenen Straße dieser Stadt von einem äußerlich ehrbaren Hallischen Bürger predigen hören: Mit Gott ist's aus, wir stehen auf unsern eigenen Füßen! Noch erstarrt unser Blut, wenn wir der Tage gedenken, wo solcher Frevel in Frankreichs Hauptstadt von den Dächern gepredigt wurde. O wenn es mit dem deutschen Volke dahin kommen könnte! Doch nein, nein, du nachgeborenes Geschlecht, ihr Jünglinge, die ihr hier steht, die Lenden umgürtet und eure Lampen brennend, ihr Jünglinge, die ihr euren Adel und eure Menschenwürde darin erkennt, vor dem lebendigen Gotte eure Kniee zu beugen, ihr seid die von Gott Berufenen, ihr werdet die Schmach von den Häuptern unseres Volkes wenden helfen! Auf euch steht unsere Hoffnung, die wir abtreten, für die ernsten Tage, die da kommen werden, und die unser Auge nicht mehr sehen wird. — Daß die Vernunft der Menschen erst erzogen werden, daß das innere Auge erst gereinigt werden muß, darüber sind aber auch, wenigstens die Besonnenen, alle einig. Aber wer soll es nun aufklären und reinigen? Wer ist nun der Kühne, der vor seine Brüder sich hinzustellen wagt, um rein und allein aus der Kraft seiner eigenen Vernunft ihr Arzt und Heiland zu werden? Wer ist der Kühne, der es zu behaupten wagt: Mein inneres Auge, das ist der Stern in der Nacht des Lebens, ohne Aufgang, ohne Niedergang, ohne Wechsel des Lichts und der Finsternis? Nein, Christen, wenn wir Prediger hier von der Kanzel herab zu euch reden, nicht uns, nicht uns, einen Höheren als wir verlangt ihr zu vernehmen; den, den wollt ihr aus unserem Munde reden hören, der durch sein ewiges Wort auch unsere Augen helle machen muß, damit wir in seinem Lichte Licht sehen! Und wenn selbst dessen Wort falsch wäre, dann wollten wir herabsteigen von diesem Orte, wo wir über der Gemeinde standen — es war ja nur sein Wort, das uns auf diesen hohen Ort gestellt hat! — und wollten unter euch treten, nichts besser und nichts schlechter als die Sterblichen alle, die, wo Christus zum Lügner geworden, im unsichern Dämmerlicht ihrer eigenen Vernunft durch dieses Leben wallen. Das Seelenauge des Menschen kann durch keinen anderen gesund werden, als durch den, der selbst ein durch und durch gesundes Seelenauge gehabt hat. Und warum ist er allein es unter allen, der jenes durch und durch gesunde Seelenauge hatte? Weil er allein es ist, der da fragen konnte: wer mag mich einer Sünde zeihen? Erinnert ihr euch, wie er das als Prüfstein seiner Wahrheit hingestellt,

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