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Erich Mendelsohn, „Die internationale Übereinstimmung des neuen Baugedankens oder Dynamik und Funktion" (Auszüge, 1923)

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Denn während die Maschine stets eine Arbeitsleistung vollführt, Kraft ausübt oder überwindet – ist die Architektur nur der Ausdruck von Kräften, deren Wirkung in der statistischen Schwere des Baus von selbst zur Ruhe kommt, nur der räumliche Ausdruck für das Spiel der in ihrer gegenseitigen Wirkung sich aufhebenden Kräfte.

Wird von der Dynamik gesprochen, so kann darunter niemals Bewegung verstanden werden im Sinne eines mechanischen Bewegungsvorgangs; denn dieser ist einzig und allein der Maschine vorbehalten. – Auch erscheint es mir zum mindesten zweideutig, „Dynamik“ mit „Lebensgefühl“, „Vitalität“, „Emotion“ zu übersetzen. Derlei unkontrollierbare Blutdinge sind durchaus kein Privileg unserer Zeit. Wenn Sie wollen, ist Lebensgefühl bei jeder produktiven Leistung Antrieb und Maßstab. Lebensgefühl bedeutet im Prinzip nichts anderes als die Begriffspaare Begabung und Persönlichkeit oder Genie und Wille.

Es ist direkt proportional der produktiven Kraft wie der künstlerischen Leistung. Es ist unabhängig von Ort und Zeit und erzeugt, um große Beispiele zu nennen, im alten Ägypten z. B. den Tempel zu Karnak ebenso wie im gotischen Norden z. B. Danzigs Marienkirche. Wollen Sie aber Dynamik nur fassen als den logischen Bewegungsausdruck der den Baustoffen innewohnenden Kräfte, den Bau also als nichts anderes als den Ausdruck der realen Bedürfnisse und dieser Kräfte, so ergibt sich, scheint mir, für „Bewegung“ – im Gegensatz zur Maschine – ein völlig eindeutiges und ins Absolute geweitete Bild, eben das gleiche Bild für alle originalen Konstruktionsepochen. – So gesehen ist das Konstruktionsprinzip des griechischen Tempels mit Stütze und Last, das gotische Prinzip mit Pfeiler und Wölbung nichts anderes als die Bewegung und Gegenbewegung dieser immanenten Kräfte.

Wohl ist die Einzelkraft stets statisch, aber das Kräftespiel ist stets dynamisch! Selbstverständlich können solch prinzipielle Erkenntnisse nicht von der Normalaufgabe des täglichen Häuserbaues abgeleitet werden.

Denn ihr kleiner Maßstab ist unabhängig vom konstruktiven Problem, folgt nur langsam den Gedankengängen großer und besonderer Aufgaben, indem er ihre prinzipiellen Ergebnisse für seine bescheideneren Zwecke und meist nur formal umdeuten kann.

Da es sich um unsere Zeit handelt, so müssen wir besonders die Elemente heranziehen, die gerade unserer Arbeit zur Verfügung stehen, unsere Bedürfnisse, unsere Baustoffe und unsere Konstruktionsmethoden.

Das revolutionäre Spiel der Zug- und Druckkräfte im Eisen löst für die Eingeweihten immer von neuem erstaunliche, für die Laien noch völlig unverständliche Bewegungen aus. Unsere Aufgabe ist es, für diese Bewegungskräfte den architektonischen Ausdruck zu finden, durch die architektonische Gestaltung für diese Spannungen den Ausgleich zu finden, die innerlich drängende, zur tatsächlichen Bewegung drängende Vitalität der Kräfte zu meistern.

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