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„Einhundertfünfzig pro Minute”, Berliner Tageblatt (4. September 1928)

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Ob dort zum Beispiel, in dem so schrecklich dicken Menschen, nicht eigentlich zwei Menschen stecken? Ob es sehr verwunderlich wäre, wenn er plötzlich anfinge, mit zwei Stimmen zu reden?

Jene, die im Vorgarten des Cafés für eine Zeitlang seßhaft geworden sind, haben, soweit sie mit Zeitungslektüre und erotischen Anfechtungen glücklich fertig wurden, noch eine erhebende Beschäftigung. Sie blicken ins Weite, sie genießen sinnend die Aussicht. Da prangen alle Farben einer entzückenden Landschaft, bei der allerdings auch etwas menschliche Kunst die Hand im Spiel zu haben scheint.

Welche Naturwunder begeben sich abends auf dem Platz? Da ist einmal das Abendrot. Es gibt auch ein Abendgrün und ein Abendgelb. Das glühende Rot ist naturwissenschaftlich aus dem Umstand zu erklären, daß ein großes Weinhaus bei einem Unternehmen für Lichtreklamen ein Jahresabonnement abgeschlossen hat. Das Grün und das Gelb sind in ähnlicher Weise durch ein Varieté und eine Schuhfabrik bedingt. In diesem Rot können Dichter bereits alle positiven Eigenschaften des Weins erleben; auch die anderen Farben schlagen so stark an die Phantasie mancher Menschen, daß ihnen alles, was nach diesem Erlebnis folgen konnte, etwa ein wirklicher Schuhkauf oder ein Varietébesuch, nur mehr als überflüssige Abschwächung erscheint. So schädigt oft die Reklame sich selber.

„Vorgarten“ heißt der Vorgarten des Cafés nicht ganz ohne Grund, es stehen sieben wirkliche Bäume da. Wie deren Wurzeln wohl zumute sein mag? Liegen sie in richtiger, schwarzfeuchter Erde, zwischen kleinen Steinen, Schnecken und Regenwürmern? Glauben sie, daß damit alles in Ordnung sei, oder fühlen sie die Nähe der Kanäle, der Telephon- und Telegraphenleitungen, der Untergrundbahn, die unter ihnen dahinfährt?

Ein Kabel geht jedenfalls zwischen zwei Wurzeln mittendurch eben, einviertelsieben Uhr, werden die nachbörslichen Kurse durchtelephoniert. Was meinen die Wurzeln dazu? Sie wollen sich gern tiefer in die dunkle Erde verkriechen, da stoßen sie schon an ein Lichtkabel. Daß das nur keinen Kurzschluß gibt!

Um den langen Hals der Bäume ist unten ein schwerer Asphaltring gelegt, der Kopf strebt nach oben, heraus aus der Asphaltschlucht, zum Himmel. Aber es ist bekanntlich dafür gesorgt, daß die Bäume nicht bis dahin wachsen. Unerreichbar hoch ist der Himmel, eigentlich nur ein Stück, das zwischen zwei Häuserreihen sichtbar ist, eine Großstadtration, aber immerhin abendlich und rein.

Kommen vor Einbruch der Dunkelheit noch rasch die Flieger mit ihrer Rauchschrift? Vorderhand steht dort oben, blau in blau geschrieben, das Wort „Sommer“; ist das der Name des neuen Brausepulvers? Kaum – denn diese Schrift oben ist so, daß sich da unten nur wenige lesen können, eine schlechte Reklame. Oben ist ferner der Wind (bekanntlich das Kind des Himmels), kurz vorher hat er den Harz besucht oder die Ostsee, nun bringt er von dorther etwas Ozon oder salzige MeerIuft, ein paar kleine Besuchsgeschenke, die er in der Nacht, wenn er durch die Fenster der Schlafenden steigt, in deren Träume mischen wird.

Vorderhand besucht er flüchtig die Bäume. So, von ihm bewegt und vor dem Hintergrund des Himmels, sehen sie einen Augenblick aus wie wirkliche Baume, da singt auf einem Ast sogar ein garantierter Vogel, und da kommt auch ein großer roter Schmetterling, wie direkt aus der Landschaft oder aus dem Märchen – aber nein, das ist doch nur ein Fahrschein von einem Autobus.



Quelle: „Einhundertfünfzig pro Minute“, Berliner Tageblatt (4. September 1928); abgedruckt in Potsdamer Platz, Drehscheibe der Welt, hrsg. von Günther Bellman. Berlin: Ullstein Buchverlage, 1997, S. 121-24.

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