GHDI logo

Thomas Mann, „Gegen Dickfelligkeit und Rückfälligkeit: Wunsch an die Menschheit" (1927)

Seite 2 von 2    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Nie nun, so will uns scheinen, war der Abstand zwischen Materie und Geist, die Spannung zwischen dem, was im Wirklichen noch für möglich gehalten wird, und dem »eigentlichen« geistigen Erkenntnisstande der Menschheit so skandalös, gefährlich, krankhaft, verhängnisgeladen wie heute – und zwar ohne daß die große Masse der Menschheit sich dessen im entferntesten bewußt wäre. Sie glaubt sich von peinlichen Zwischenfällen zu erholen und zu »restaurieren«, von denen sie offenbar rein akzidentiellerweise betroffen worden, und ergeht sich in Dummheiten, die einen intelligenten Hund zum Heulen bringen könnten, ohne sich von den Katastrophen auch nur träumen zu lassen, die ihr gewiß sind, wenn sie nicht, statt abgestandene Allotria zu treiben, allen Ernst und alle Eile daran setzt, den Geist einzuholen und die Zustände ihrer Wirklichkeit seinen Erkenntnissen und Forderungen leidlich anzupassen. Dies ist es, was »Klugheit«, was Geistwilligkeit aus erhaltendem Sinn genannt wurde. Vorbauende, auf Anpassung und rechtzeitiges Zugeständnis bedachte Geistfreundlichkeit ist das einzige, was die Zivilisation vor dem Untergang zu retten vermag, und jeder konservativ Gestimmte, das heißt jeder, der nicht die Katastrophe will, sondern Vernunft, Folge und Fortschritt, muß heute – weit entfernt, die Renitenz der Dummheit zu ermutigen – ein gut Teil revolutionären Willens in sich aufnehmen, muß weitgehend das noch Bestehende, aber Überholte verneinen und lieber den Vorwurf des Radikalismus tragen, als den unheilschwangeren Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Geist vertiefen helfen.





Quelle: Thomas Mann, „Gegen Dickfelligkeit und Rückfälligkeit: Wunsch an die Menschheit“ (1927), in Thomas Mann, Essays, Band 3: Ein Appell an die Vernunft 1926-1933, herausgegeben von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski, Frankfurt a/M: Fischer Taschenbuch Verlag, 1994, S. 75-77.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite