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Otto Bauer, „Das Wesen der Rationalisierung" (1931)

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Aber die Rationalisierungskonjunktur mußte bald ihr Ende finden. Sobald die meisten Unternehmungen die technische Erneuerung ihrer Betriebe vollzogen und beendet hatten, mußte der technische Umgestaltungsprozeß langsamer fortschreiten. Damit mußte der Bedarf an Produktionsmitteln sinken, eine Absatzstockung in den Produktionsmittelindustrien eintreten. Die Entlassung großer Arbeitermassen in den Produktionsmittelindustrien mußte auch den Geschäftsgang der Konsumgüterindustrien verschlechtern. So setzte 1929 eine schwere Wirtschaftskrise ein. Der Rationalisierungskonjunktur folgte die Rationalisierungskrise. Die Unternehmungen, die in den Jahren 1924 bis 1928 ihre Betriebsanlagen gewaltig ausgebaut, ihre Erzeugungsfähigkeit bedeutend vergrößert hatten, sahen nun, daß sie die Warenmengen, die sie zu erzeugen vermögen, nicht abzusetzen, die neuen Betriebsanlagen, die neuen Maschinen nicht auszunützen vermochten. Der Rationalisierungsoptimismus schwand. Man begann zu klagen, die Rationalisierung sei überhastet und übertrieben worden, sie sei in vielen Fällen eine „Fehlrationalisierung“ gewesen. Der Glaube, durch die Rationalisierung die Wirkungen des Krieges überwinden zu können, schwand. Die Enttäuschung wendete sich gegen die Demokratie, die die Volkswirtschaft nicht wiederherzustellen verstehe, gegen die Arbeiterklasse, deren Löhne allzu hoch gestiegen seien, gegen die Verständigungspolitik, die den Siegermächten feige hohe Tribute aus dem Ertrag der deutschen Arbeit zugestanden habe. Eine Welle nationalistischer, antidemokratischer Reaktion ergoß sich 1930 über das Reich. In ähnlicher Weise schwand auch in den anderen Ländern die Freude an der Rationalisierung. Hatten die Vereinigten Staaten eben erst ihren Glauben an die Triumphe der Rationalisierung bekundet, als sie Herbert Hoover, den Schöpfer der Rationalisierungsorganisation, zum Präsidenten wählten, so schwand seine Volkstümlichkeit, als auch dort im Herbst 1929 die Rationalisierungskonjunktur in die Rationalisierungskrise umschlug.

Der geschichtliche Sinn der Rationalisierung war die Anpassung der durch den Krieg und die Inflation hindurchgegangenen Volkswirtschaften an die neue, durch die Rückkehr zum beständigen Geldwert bestimmte wirtschaftliche Lage. Die Rationalisierung in diesem ursprünglichen Sinn ist seit 1929 beendet. Und mit ihr gehören auch die sie kennzeichnenden ideologischen Begleiterscheinungen, die überschwengliche Bewunderung des „amerikanischen Wirtschaftswunders“, die überschwengliche Illusion, daß die „neue industrielle Revolution“ dauernde Prosperität sichern, die Lebenshaltung der arbeitenden Klassen in stetigem Aufstieg heben und alle Übel der kapitalistischen Produktionsweise heilen werde, bereits der Geschichte an.
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Quelle: Otto Bauer, Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg, Erster Band, Rationalisierung Fehlrationalisierung. Berlin: Büchergilde Gutenberg, 1931, S. 161-63.

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