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„Zum Wahlausfall" (5. Mai 1924)

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bürgerlichen Parteien von rechts bis zu den Sozialdemokraten ausschließlich zu bilden ist. Ein Kabinett, das sich auf solche Mehrheit stützen könnte, wäre ganz anders imstande, den deutschen Willen und die deutschen Interessen den Feinden gegenüber zu vertreten, als die Minderheitsregierungen von heute. Das Ausland soll und muß merken, daß in Zukunft gewisse naive Gemeinheiten und Zumutungen Deutschland gegenüber nicht mehr möglich sind. Wir wissen, daß wir in bitterer Zwangslage leben und daß wir zahlen und bluten müssen. Wir wissen aber auch, daß wir ein starkes und stolzes Volk sind, das jahrelang gewohnt war, den Rücken der Feinde zu sehen, und das man nicht ewig ungestraft mißhandeln darf.

Immerhin sei gleich gesagt, daß die hier verlangte „große Koalition“ nur eine Forderung der heutigen politischen Lage ist, die in ihrer zwingenden Not vielleicht noch einige Jahre dauern mag. Aber im Grunde ist diese „große Koalition“ nur eine kleine Koalition. Als heuristisches Prinzip muß vor dem deutschen Wähler stets die Forderung einer Regierungsbildung von den Konservativen bis zu den Sozialdemokraten einschließlich stehen. Das mag heute noch sehr verwegen klingen. Allein wer der grausigen Schwüre gedenkt, die im Lager der Sozialdemokratie jahrelang geschworen wurden, sogar von ganz harmlosen Leuten wie Hermann Müller, nie und nie und nie und nie mit einer Partei wie der nationalliberalen, oder wie sie jetzt heißt, der Deutschen Volkspartei, zusammenzugehen, und vor allen Dingen nicht mit einem so typischen Repräsentanten des Kapitalismus wie Herrn Stresemann, und wer dann erlebt hat, wie selbst die Unabhängigen das rote Taschentuch schweigend in die Tasche gesteckt und wie selbst ein so berufener Kunde wie Crispien, der kein deutsches Vaterland kennt, an den Busen dieser kapitalistischen Partei gesunken ist und sogar als Parteivorstand und Tambourmajor der „Vereinigten Sozialdemokratie“ den Abmarsch nach rechts mit kommandiert hat, - wer das alles jahrelang mit angesehen und angehört hat, der misstraut den Schwüren der Politiker noch mehr als den Schwüren der Liebenden. Als großer Marschrichtungspunkt muß vor uns die „große Koalition“ von Westarp mit Müller stehen. In den Jahren, die kommen, wird der Zersetzungs- und Klärungsprozeß der Parteien auf der Rechten wie auf der Linken weiter vor sich gehen, und die peitschende Not des Landes, die eher steigen als abnehmen mag, wird den führenden Politikern schon das bißchen Dialektik einpauken, das nötig ist, um den Gedanken der nationalen Solidarität aus einer Parteiphrase zur Wirklichkeit zu machen. Hinter der Sozialdemokratie steht die deutsche Arbeiterklasse, und die brauchen wir. Auch sie darf ebenso wenig mit dem Rücken gegen den republikanischen Staat stehen, wie die Konservativen. Wir brauchen, um mit Fichte zu reden, den Zwingherrn zur Deutschheit.

Als eine Etappe zu diesem Ziele wollen wir das bisherige Ergebnis der Reichstagswahlen begrü?en.





Quelle: „Zum Wahlausfall“, in Deutsche Allgemeine Zeitung, 5. Mai 1924.
(http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/list/title/zdb/2807323X/)

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