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„Zum Wahlausfall" (5. Mai 1924)

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unheilvolle Zerreizung unseres Volkstums in kultureller und religiöser Hinsicht in Nord- und Süddeutsche, in Protestanten und Katholiken, auch im Parteiwesen deutlich an uns. Der Kapitalismus, der sonst die Neigung hat, alle historischen Gegensätze zu überbrücken und neue soziale Gegensätze zu schaffen, hat in Deutschland nur das zweite getan. Er hat uns neue Schärfen gebracht und den Klassenkampfgedanken bis zu einem sonst unbekannten Grade zugespitzt. Die verhängnisvolle Unterbrechung, die der Kapitalismus seit 1914 in seinem normalen Entwicklungsgange erfahren hat, also seit immerhin schon 10 Jahren, hat ihm auf der andern Seite die Kraft geraubt, die alten kulturellen Gegensätze im deutschen Volke abzuglätten, und so haben wir in diesen 10 Jahren ein Aufleben des Partikularismus und vieler schon überwunden geglaubter Widerstände erlebt, dessen Ergebnis die schier groteske Fülle von Parteien und Wahlvorschlägen darstellt.

Immerhin hat die Wucht der Massenbewegung, wie sie die Reichstagswahl des großen europäischen Zentralvolks darstellt, die meisten Parteikrümel vom Tische gefegt. Aber es ist doch bezeichnend, daß zu den alten Parteien zwei neue hinzugetreten sind, die bei den letzten Wahlen noch gar nicht oder nur in bescheidenen Ansätzen vorhanden waren und die jetzt eine Stimmenzahl auf sich vereinigt haben, die nicht erwarten läßt, daß sie schnell wieder verschwinden werden. Wir meinen die Völkischen und die Kommunisten. Mit beiden wird man als mit grundsätzlichen Oppositionsparteien zu rechnen haben. Und eine Opposition ist so notwendig wie das Salz in der Suppe. Was die übrigen Parteien betrifft, so wird es auf sie selber ankommen, wie sie sich zusammenfinden und wer sich zusammenfindet.

Für selbstverständlich halten wir den Eintritt der Deutschnationalen in die Regierung. Das sind sie ihren Wählern schuldig, die mit der Wahl eines Konservativen keine Partei haben wählen wollen, die mit dem Rücken gegen den Staat steht, weil dieser Staat eine Republik ist. Es ist anzunehmen, daß die Deutschnationale Volkspartei diesen Schritt vollziehen wird. Damit wäre ein wesentlicher Schritt im Sinne nationaler Solidarität und inneren Ausgleiches getan. Es ist sicher, daß mit dem Eintritt der Konservativen die Frage einer Beteiligung der Sozialdemokraten an der Kabinettsbildung erledigt sein würde. Und damit kann man nur einverstanden sein. Einmal hat sich die Sozialdemokratie durch ihre bisherige Beteiligung an der Reichskabinettsbildung genügend vor den Massen kompromittiert, als daß sie noch imstande wäre, mit einer gar zu bedenkenfreien Agitationssprache die Verantwortung für die Zustände in Staat und Gesellschaft ablehnen zu können. Die Partei hat eine sehr wohltuende Niederlage erlitten. Von den rund 11 Millionen Stimmen, die im Jahre 1920 Sozialdemokraten und Unabhängige erhalten haben, hat die Vereinigte Partei ungefähr 50 Prozent eingebüßt. Ein erheblicher Teil ihrer einstigen Anhänger ist nach rechts abgewandert zu den Konservativen, was besonders aus dem Wahlausfall in Merseburg sich ergibt. Auf der andern Seite ist es absolut notwendig, daß in der auswärtigen Situation des Reiches die spezifische Partei des Pazifismus und der internationalen Verbrüderungsphraseologie jedes direkten Einflusses auf den Gang der politischen Ereignisse und Entschlüsse entkleidet wird. Die Telegramme aus dem feindlichen Ausland von den „Bruderparteien“, die sich die Sozialdemokratie als eine Feder an den Hut gesteckt hat, machen sie von vornherein im jetzigen Augenblick völlig ungeeignet zu jeder Regierungsbeteiligung. Es ist also darauf hinzuarbeiten, daß eine große Koalition der

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