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Der Charakter der Freizeit im Kapitalismus und Sozialismus (1961)

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Drittens gibt es im Sozialismus erstmalig ein großzügig aufgebautes Netz kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen, die uneingeschränkt von allen Werktätigen genutzt werden können. Es besteht ein Gesetz zur Qualifizierung der Werktätigen und zur sozialistischen Entwicklung der Berufsausbildung. «Früher ging es schnell nach Feierabend in die nächste Kneipe», berichtete Dieter Locha, Jugendbrigadier im VEB Maschinenbau Görlitz, «und dann wurde es immer ein oder zwei Uhr. Jetzt geht es nicht mehr. Der eine geht zum Meisterlehrgang, die anderen besuchen Abendkurse zur Erlernung des zweiten Berufes als Schweißer. Dann treffen wir uns auch sehr oft, um etwas durchzusprechen.»

Viertens bietet im Sozialismus die Freizeit, da sie sich gesetzmäßig mit der Steigerung der Arbeitsproduktivität vergrößert und die sozialistische Arbeit noch genügend Kraftreserven läßt, nicht nur die Möglichkeit der Entspannung und Unterhaltung, sondern auch der Persönlichkeitsentfaltung durch vielgestaltige kulturelle und wissenschaftliche Kontakte. «Nur keinen Bildungsfanatismus», empfiehlt dagegen die offiziöse westdeutsche «Welt der Arbeit». «Freizeit bedeutet Freiheit, zu tun, was einem gefällt ... Und wer stundenlang auf einer Brücke steht und in den Kahn spuckt, um zu sehen, ob die Spucke Kahn fahren kann – soll es tun dürfen ...» Hier wird unmißverständlich eine individualistische, auf politische Enthaltsamkeit hinzielende Freizeitunterhaltung empfohlen. Sie steht im Einklang mit der verunglimpfenden Bemerkung des Ministerialdirektors Osterloh vom Bundesernährungsministerium: «Im sowjetischen Machtbereich wird die Freizeit vernichtet durch ihre Einplanung und durch die staatlich gelenkte Freizeitgestaltung.» Realistische Kunst und Literatur, parteiliche Wissenschaft, allseitige Aus- und Weiterbildung der Werktätigen als größte humanistische Aufgabe einer Gesellschaft ist allerdings eine «Vernichtung der Freizeit», einer Freizeit des angsterfüllten Dahindösens, des eifersüchtigen Klatsches, zotiger Biertischatmosphäre, in der unter dem Einfluß von Alkohol erst die Argumente und dann die Maßkrüge fliegen. Im Kapitalismus soll sich der Werktätige amüsieren, um gut arbeiten zu können; er soll aber nicht denken, nicht klassenbewußt handeln lernen. Kulturelle Erholung ist deshalb nur mit politischer Indifferenz erwünscht. Im Sozialismus dagegen dient die Freizeit neben der physisch und psychisch notwendigen Entspannung vor allem dem baldigen Sieg der Kulturrevolution, der Entwicklung eines hochgebildeten, kulturvollen Menschen. Die Kultur dient erstmalig uneingeschränkt dem Volke, und das Volk schafft erstmalig seine eigene Kultur, die sozialistische nationale Volkskultur.



Quelle: Herbert Zerle, „Freundschaft und Geselligkeit im Sozialismus“, in Pädagogik 16/1961, S. 581 ff; abgedruckt in Christoph Kleßmann, Georg Wagner, Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945-1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte. München: C.H. Beck, 1993, S. 510-12.

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