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Alfred Kurella über die „Einflüsse der Dekadenz” (Juli 1957)

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Elfenreigen …

Denn gleichzeitig vollzieht sich ein andere Prozeß: Dank der Arbeiterbewegung, dank der Entstehung sozialistischer Lebensbeziehungen in den Ländern, wo der Sozialismus politisch gesiegt hat, werden neue riesige Massen des werktätigen Volkes mit der Kultur in Berührung gebracht, bekommen kulturelle Bedürfnisse und erhalten die materielle Möglichkeit, sie zu befriedigen. Generationen lang war das Leben der alten herrschenden Klasse für sie der Inbegriff eines unerreichbaren Glücks, eine Art Vorbild. Ihre Vorstellungen von schön, edel, angenehm tragen zunächst noch den Stempel ihrer bisherigen Lebensweise. Nun haben sie die Mittel und den Wunsch, auch einmal »kultiviert« zu leben, ein schönes Bild an die Wand zu hängen, eine nette Melodie zu hören, ein ergreifendes oder packendes Buch zu lesen. Aber was sollen sie dann mit den Kunstwerken anfangen, die im Zeichen der Dekadenz, in einer ihnen völlig fremden Lebenssphäre morbider Impulse und angekränkelter Bedürfnisse entstanden sind? So landen sie bei Courths-Mahler, beim »Elfenreigen« beim »Weißen Rößl« und »Ratselbinder« oder bei den Surrogaten, die geschäftstüchtige heutige »Kunst«-Produzenten ihnen liefern.

In den Ateliers und in den Stuben ganzer Scharen junger Künstler – wo man oft die Achseln zuckt über jemanden, der ein Bild malt, auf dem wirklich etwas drauf ist – sammeln sich inzwischen die bemalten Leinwandstücke, für die sich niemand interessiert. Es sind manchmal sogar ganz begabte Sachen, doch fast immer Fragmente, Andeutungen, irgendwie unverbindlich. Man kann es niemandem übelnehmen, wenn er sich nicht entschließt, so etwas zu kaufen, um es sich für fünf oder zehn Jahre ins Wohnzimmer zu hängen. Aber es gibt eben viele Menschen, die jetzt höhere kulturelle Ansprüche stellen und die auch das Geld haben, um sich etwas anzuschaffen. Was tun sie? Sie kaufen sich eines der zahllosen »Matterhörner« oder gehen zu Versteigerungen, wo man ihnen eine Originalkopie des »Elfenreigens« anbietet.

…oder Kokoschka

Man möge sich an den kleinen Skandal erinnern, den es seinerzeit mit der Fünfjahresfeier des Ensembles von Herbert Roth gegeben hat. Es kam zu einer Studentendemonstration gegen das »Rennsteig-Lied«, zu einer Gegendemonstration von Arbeitern, und er sah plötzlich so aus, als gäbe es nur eine Alternative: entweder Nolde und Kokoschka oder Elfenreigen, entweder Strawinsky oder Rennsteig-Lied. Und täglich gibt es diese Alternative. Warum? Weil sich bei einem großen Teil unserer älteren, aber auch der jüngeren Künstler Kunstauffassungen erhalten haben, die ihnen den Weg zur Lösung der eigentlichen Kunstprobleme unserer Zeit verbauen. Sie sehen in den verschiedenen Varianten der dekadenten Kunst sozusagen notwendige Etappen einer “modernen” Entwicklung, wobei “modern” ein abstrakter, rein chronologischer Begriff ist. Sie stellen sich den Kunstprozeß wie einen ununterbrochenen Strom vor, bei dem das jeweils Neuauftretende auch das wirklich “Neueste”, das zu bejahende Fortschrittliche ist.

Unsere Theoretiker haben es nicht verstanden, den Verfallscharakter der modernen bürgerlichen Kunst aufzuzeigen und klarzumachen, daß bestimmte Formen der modernen Kunst als Ausdrucksmittel ganz bestimmter, verfallsförmiger Auffassungen vom Menschen und seiner Zukunft zustande kommen und nicht beliebig, losgelöst von diesen Auffassungen, für andere Gefühle, Vorstellungen und Gedanken verwendet werden können. Es ist schwer, heute in den Künsten gegen den “modernen” Strom zu schwimmen und die große Tradition wiederzufinden. Es ist besonders schwer in Deutschland, in dessen wesentlichem Teil eine politische Restauration von einer epigonenhaften Renaissance früherer Phasen der dekadenten Kunst begleitet ist.

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