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Adolf Busemann, „Verwilderung und Verrohung” (1956)

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Verwilderung in der Schule

Es ist von vornherein klar, dass ein so breiter und schon so lange laufender Verwilderungsprozess auch ins Schulleben hineinwirkt. Tatsächlich haben sich vielerorts schwere Mißstände herausgebildet, die keineswegs den Lehrern zur Last gelegt werden dürfen. Se wurzeln teilweise in besonderer Ungunst der örtlichen Verhältnisse. Wenn einer verwildernden Dorfjugend keine erzieherische Kraft von Seiten der Eltern, der Jugendgruppen usw. die nötigen Grenzen setzt, kann der Lehrer allein auch nicht durchdringen. Von der Schwierigkeit seiner Aufgabe macht man sich wohl nicht überall zutreffende Vorstellungen, sonst wäre nicht zu verstehen, dass die Anwendung des Rohrstocks unter allen Umständen verboten sein soll. Hier geht es doch nicht mehr um das Recht der „Körperlichen Züchtigung“ im Sinne einer auf Abschreckung, Besserung und Sühne abzielenden Rechtshandlung, sondern um die Wahrung eines aller Erziehung voraufgehenden friedlichen Zusammenlebens der Schüler untereinander und mit dem Lehrer. Man darf einem Lehrer, der mit „Brachialgewalt“ den Frieden in der Schulklasse sichert, nicht der pädagogischen Rückständigkeit oder der mangelnden Erziehungskraft zeihen. Nicht die Schule hat diese Zustände hervorgebracht, unter denen sie heute leidet!

Es muss darum einmal mit allem Ernst uns aller Deutlichkeit gesagt werden: Die Pflicht des Lehrers, seine Schüler zu unterrichten und, was darin eingeschlossen ist, zu erziehen, enthält ihrem Wesen nach das Recht, die ihm anvertrauten, in der Mehrheit gutwilligen Kinder vor Akten einer kleinen Zahl jugendlicher Gewalttäter zu schützen, die seine Arbeit nicht bloß zufällig und unabsichtlich, sondern bewusst und oft planmäßig, mitunter sogar bandenartig organisiert, sabotieren, wobei es gar nicht selten zu tätlichen Angriffen einzelner oder mehrerer Schüler auf den Lehrer selbst kommt, ganz abgesehen von Zurufen im Stil Götz von Berlichingens!

So ist die Lage. Unter je 350 000 Schulabgängern in Nordrhein-Westfalen sind rund 10 000, die bereits wegen ihrer Straftaten vor dem Richter standen, das macht auf 70 Schüler einen Kriminellen. Hinter ihm aber stehen, wie oben gezeigt, Altersgenossen gleicher seelischer Verfassung in viel größerer Zahl. Der Lehrer unserer Tage muss leider damit rechnen, dass sich in seiner Klasse Vertreter dieses Typs befinden. Ihnen gegenüber ist er nicht nur berechtigt, sondern als Erzieher und Lehrer der Klassengemeinschaft verpflichtet, notfalls mit denselben Mitteln vorzugehen, mit denen diese Schüler, wenn sie sich nicht im Raum der Schule, sondern auf der Straße befinden, bei entsprechendem Anlass von der Polizei erfasst werden, nämlich mit „Brachialgewalt“. Und da es dem Lehrer verboten ist, den Übeltäter aus dem Raum der Schule zu verweisen oder gewaltsam zu entfernen, bleibt ihm keine andere Wahl, als durch Schläge auf das Hinterteil den Störer des Gemeinschaftslebens dem Ordnungsgesetz der Schule zu unterwerfen.

Von einer Prügelpädagogik kann keine Rede sein. Der Streit um Hundshammers bekannten, sachlich kaum anfechtbaren, keineswegs die „Körperliche Züchtigung“ einführenden, vielmehr ihre Anwendung stark einschränkenden Erlass, ist ein trübes Kapitel der deutschen Journalistik. Er wurde aus der Mentalität der Nachkriegszeit geboren, in Reaktion auf den ungeheuerlichen Missbrauch der Gewalt in den Jahren der Diktatur, und unter dem Einfluss von Vorträgen über das amerikanische Erziehungswesen, laut welchem die dortigen Schulen ohne harte Strafen eine ausgezeichnete Schülerdisziplin erzielen. Wie aber steht es denn nun wirklich mit den Erziehungserfolgen in den USA? Die Wochenzeitschrift „Time“ (NY) berichtete am 15. März 1954: „Die erfahrenen Lehrer von Manhattan haben sich in den paar letzten Jahren immer mehr an das gewöhnt, was die NY Daily News genannt hat: die drei neuen R’s, nämlich Rowdietum, Radau und Revolte“. Nach Aufzählung einiger charakteristischen Vorkommnisse fährt die Time fort: „Ein Lehrer, der gefragt wurde, warum so wenig Übeltäter angezeigt und bestraft würden, sagte: die Lehrer haben Angst vor den Schulleitern; die Schulleiter haben Angst vor ihren Inspektoren; die Inspektoren haben Angst vor dem Erziehungs-Department, und das Erziehungs-Department hat Angst vor der Wahrheit. Jedermann hat Angst, ausgenommen die Kinder: die scheinen vor niemandem Angst zu haben.“ Zitiert nach „Infantilismus“, Heft 16 der Psycholog. Praxis, herausgegeben von K. Heymann, Basel 1955, S. 29.

Wir brauchen nicht daran zu erinnern, dass die USA im Punkte Jugendkriminalität uns immer noch (?) weit voraus sind und wohl überhaupt den Rekord halten. Im übrigen ist nur zu sagen: tout comme chez nous. Dass auch bei uns die Lehrer es vorziehen, zu schweigen, so lange es geht, ist verständlich: nach den geltenden Erlassen sind sie ja selbst an derartigen Vorkommnissen schuld, und ihre etwaigen Maßnahmen gewaltsamer Art machen sie ja strafbar. Also verheimlicht man, was sich verheimlichen lässt.

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