GHDI logo

Heinz Kluth, „Die ‚Halbstarken’ – Legende oder Wirklichkeit?” (1956)

Seite 4 von 4    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Die widerspruchsvolle Rolle

In der Begegnung mit der Erwachsenenwelt wird daher die Labilität des jungen Menschen eher verstärkt als abgeschwächt. Sie führt dann fast zwangsläufig in den offenen Konflikt hinein, wenn auch noch die stützende und einbindende Kraft der unmittelbaren Umwelt, vor allem der Familie, so weit zerstört ist, daß sie ein Umschlagen des labilen Zustandes weder zu verhindern, noch aufzufangen vermag. So sind denn auch Jugendliche aus unzulänglichen Familienverhältnissen ganz offensichtlich zu den entscheidenden Trägern und Teilnehmern der „Halbstarken-Krawalle“ geworden. Wir dürfen dabei auch nicht übersehen, daß wir gerade den jungen Menschen zwischen dem 16. und 21. Lebensjahr in eine merkwürdige Zwitterstellung des Nochnicht- und Schonerwachsenseins hineinmanövriert haben, die es ihm gestattet, sich im Konfliktsfall auf die Rolle mit den größten Rechten, nämlich die des Erwachsenen, zu berufen und sich zugleich vor sich selber mit der Rolle zu rechtfertigen, die ihm die geringste Verantwortung aufbürdet, nämlich mit der des Jugendlichen oder gar noch des Kindes.

Die Rolle der Jugend in unserer Gesellschaft ist doch als einzige bereits in sich widerspruchsvoll. Der junge Mensch soll heute für das Elternhaus Kind, nach dem Willen bestimmter Gesetze und Freizeitforderungen Jugendlicher und in der Arbeits- und Berufswelt weithin schon Erwachsener sein. Das ist aber im letzten Grunde eine unlösbare und zutiefst konfliktgeladene Aufgabe. Die erwerbstätige Jugend ist diesem Dilemma in besonderem Maße ausgesetzt, weil sie unter dem Druck der für ihr Dasein zentralen Arbeitswelt verhältnismäßig schnell einen erwachsenenkonformen Habitus entwickelt. Findet sie aber jenseits der Arbeit keinen eindeutigen Zugang zur Erwachsenenwelt, dann ist die Kurzschlußhandlung sicher nicht die richtige, aber immerhin eine begreifliche Antwort. „Wir wollten zur Kenntnis genommen werden!“ Mag diese Aussage von „Rädelsführern“ bei „Halbstarken“-Krawallen auch noch so vordergründig gemeint gewesen sein, sie trifft eines der Elemente, aus denen sich die sogenannte „Halbstarken-Problematik“ zusammensetzt.

Gerade dieses Element ist es offensichtlich auch gewesen, das auf die unglückliche Publizität der „Halbstarken“ in den letzten Monaten angesprochen hat. So unsinnig die Behauptung wäre, die Publizistik habe die „Halbstarken“ erst geschaffen, so wenig kann man an der Tatsache vorbeisehen, daß die hektische Berichterstattung in einer Reihe von Fällen das auslösende Moment abgegeben hat. Daß die Gesamtsituation hier noch keineswegs so labil gewesen ist, daß sie in einen offenen Konflikt hätte umschlagen müssen, wird sich wahrscheinlich schon in nächster Zukunft daran erweisen, daß ein großer Teil der „Halbstarken“ mit dem Abklingen der Publizität genau so plötzlich wieder verschwinden wird wie er aufgetreten ist. Um derartige Erscheinungen hat es sich offensichtlich auch dort gehandelt, wo die Polizei das „Halbstarken-Problem“ durch „Nichtzurkenntnisnahme“ der „Halbstarken“ vermeintlich gelöst hat. Diese Patentlösung dürfte sich daher auch als recht unwirksam gegenüber den „echten Halbstarken“ herausstellen, das heißt dort, wo die Situation selbst keine stabilisierenden Elemente bereitstellt.



Quelle: Heinz Kluth, „Die ‚Halbstarken‘ – Legende oder Wirklichkeit?“, deutsche jugend, Bd. 4 (Januar-Februar 1956), S. 495-502.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite