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Heinz Kluth, „Die ‚Halbstarken’ – Legende oder Wirklichkeit?” (1956)

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Das, was sich im „Halbstarken“ verkörpert, widerspricht in der Tat zutiefst den großstädtischen Ordnungsstellungen. Man macht daher auch gar nicht erst den Versuch, das „Anliegen“, das die „Halbstarken“ vortragen, in dem Sinne ernst zu nehmen, daß man sich um eine legitime Chance seiner Verwirklichung bemüht. Was bleibt, ist das Bemühen, ihm mit moralischen Appellen, Verdammnisurteilen, polizeilicher Gewalt oder prophylaktischer Jugendbetreuung zu begegnen. Erfolge sind auf diesen Wegen allerdings kaum zu erwarten, denn die Wurzel des Übels, die übermäßige Beschneidung der spontanen, „sinnlosen“ Aktion, wird damit nicht nur nicht beseitigt, sondern geradezu verstärkt. Die hektische Diskussion um die „Halbstarken“ wird bald wieder zu Ende sein; das Problem aber, das dabei nur in seinen äußersten Schichten sichtbar geworden ist, wird solange ungelöst bleiben, als man nicht sieht, daß man dem „sinnlosen“ Tun um so mehr ein Recht einräumen muß, je mehr man den jungen Menschen in ein feinmaschiges Geflecht „sinnvoller“ und sachbezogener Verhaltensweisen einspannen will und vielleicht auch muß. Eine Norm, die respektiert sein will, muß die Chance des Normenbruchs gleichsam von vornherein mit in sich aufnehmen. Hier liegt das Problem: die großstädtisch-industrielle Gesellschaft hat das Sicherheit verleihende Selbstvertrauen gegenüber ihrer eigenen Stabilität und Elastizität verloren, das notwendig ist, um einen „ernst gemeinten“ Dummenjungenstreich noch als Dummenjungenstreich werten, daß heißt zugleich ertragen und in seinen Grenzen festhalten zu können.

Keine stützende Umwelt

In der Regel führt dieser spontane, gegen jegliche Einbindung gerichtete Aktionsdrang trotz allem nicht zu einem offenen Konflikt mit der gesellschaftlichen Umwelt. Wenn es zum „Krawall“ kommt, dann sind eine Reihe verstärkender oder auslösender Faktoren mit im Spiel gewesen. Zwei scheinen dabei nach den bisherigen Beobachtungen von besonderer Gewichtigkeit zu sein: der Geltungsdrang und das Fehlen einer stützenden Umwelt. Der Heranwachsende sucht nach der Anerkennung seiner „Vollgültigkeit“, nach einer Bestätigung seiner „Gleichwertigkeit“ durch die Umwelt. Die Bedeutung dieser Frage wird bei uns zu leicht unterschätzt, weil wir uns weithin an dem Glauben festklammern, der Jugendliche lebe in einer eigenen, von der der Erwachsenen weitgehend getrennten sozialen Welt. Das mag für einen Teil der Jugend stimmen, der weitaus größte Teil aber orientiert sich an den Maßstäben der Erwachsenenwelt. Jugendlicher sein, heißt doch nicht, eine eigene Welt gründen, sondern Erwachsener werden, aus der Rolle des „Noch-nicht-ganz-für-voll-genommen-Werdens“ herauskommen. Der junge Mensch reagiert daher außerordentlich empfindlich, wenn ihm auf die Dauer eine Anerkennung versagt bleibt.

Nun bieten aber die anonymen und versachlichten Strukturen der Großstädte und der großbetrieblichen Arbeitswelt an sich schon immer weniger Möglichkeiten, eine Umwelt zu finden, die Anerkennung verleihen kann. Wenn überhaupt, dann hat hier die These von der „Vereinsamung“ der heutigen Jugend ihren Grund. Eine „menschliche Begegnung“, die sich in einer sozial irrelevanten Situation vollzieht, mag das Problem wohl zeitweilig überdecken, löst es aber trotz aller romantischen Verklärung nicht. Die Begegnung mit irgendeinem durchbricht die „Einsamkeit“ nicht, wenn dieser eine, der den Jugendlichen „ernst“ nimmt, ihm nicht als Repräsentant einer sozial relevanten Welt erscheint. Hinzu kommt nun aber, daß die Erwachsenenwelt, an der sich der Jugendliche in seinem Streben nach Gleichrangigkeit zu orientieren versucht, selbst keine Formen von maßstäblicher Verbindlichkeit mehr anzubieten hat. Die Erwachsenen sind doch selbst in die zutiefst verunsichernde Beliebigkeit ihrer sozialen Rollen hineingeraten. Aus dieser Unsicherheit heraus werden sie ja auch immer unfähiger, sich unmittelbar mit der Jugend auseinanderzusetzen; das „Vorreden“ rückt immer mehr an die Stelle des „Vorlebens“.

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