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Heinz Kluth, „Die ‚Halbstarken’ – Legende oder Wirklichkeit?” (1956)

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Wenn der „Halbstarken-Krawall“ der Vergangenheit sich nicht teils einer breiteren Publizistik entzogen hätte, teils auf Grund der besonderen Gegebenheiten unter einem anderen Akzent als heute registriert worden wäre, könnte in vielen Fällen schon der Rückgriff auf die Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit zeigen, daß wohl die spezifischen Ausdrucksformen, aber keineswegs die Problematik selbst mit den besonderen Bedingungen unserer Tage verbunden ist. So darf man doch zum Beispiel nicht übersehen, daß immer ein Teil der in den handgreiflichen politischen Auseinandersetzungen der zwanziger Jahre engagierten Jugendlichen alles andere als in einem tieferen Sinn politisch engagiert war. Diese Auseinandersetzungen boten jedoch einem weithin undifferenzierten Aktionsdrang fast ungehemmte Entfaltungsmöglichkeiten. Es ist daher sicher kein Zufall, daß dieser pseudopolitische Teil der Jugend mehr und mehr zu den radikalen, also „aktionsträchtigen“ Flügeln des politischen Lebens hin abwanderte. Nach 1933 wurde dann dieser Aktionsdruck gewaltsam kanalisiert und nur soweit freigegeben, als es den Zielen der Machthaber entsprach (Judenverfolgung zum Beispiel und Krieg). In der Gegenwart sind dagegen die Voraussetzungen für ein derartiges „politisches Engagement“ weitgehend geschwunden. Unser Mißverständnis beginnt dort, wo wir ein gleichartiges Verhalten nur deswegen anders beurteilen und bewerten, weil es sich nicht mehr vordergründig politisch motiviert, sondern gleichsam unverhüllt, motivlos zutage tritt. Die Frage, warum es heute „Halbstarke“ gibt, ist daher falsch gestellt, denn „Halbstarke“ gibt es nicht erst seit heute. Die Frage müßte richtiger lauten, warum es heute keine „Halbstarken“ mehr in der edleren Verpackung „höherer“ Motive gibt.

Eine entscheidende Wurzel des „Halbstarken-Problems“, die die ganze Frage über jene penetrante Aktualität hinausführt, die man ihr heute so gerne verleihen möchte, ist in dem entwicklungsbedingten Zusammentreffen von forciertem Betätigungs- und Geltungsdrang einerseits und seelisch-geistiger sowie sozialer Labilität andererseits zu suchen, das die Periode des Übergangs aus der Kindheit ins Erwachsensein auszeichnet. Diese Konstellation enthält von vornherein die Möglichkeit eines Konflikts mit der Umwelt. Nicht daß es „Halbstarke“ gibt, sondern daß es so verhältnismäßig wenige „Halbstarke“ gibt, ist daher das eigentlich überraschende Moment. Daß die Halbstarken-„Problematik“ bis heute zwar nicht ausschließlich, aber doch überwiegend auf die Großstädte beschränkt geblieben ist, zeigt, daß erst in den Großstädten jene Klammern gelöst worden sind, die das labile Gleichgewicht der Uebergangszeit, der sogenannten Jugendzeit also, vor dem Umschlagen bewahrt haben.

Verstopfte Ventile

Man hat offensichtlich in den Großstädten das Gefühl dafür verloren, daß sich der undifferenzierte Betätigungsdrang nicht restlos in „sozial nützlichen“ Tätigkeiten kanalisieren läßt, ja, daß der Drang zur Aktion um der reinen Aktion willen in dem Maße wächst, wie der Mensch in ein Geflecht rigoroser Verhaltensnormierungen eingezwängt wird. Es kann nun keineswegs bestritten werden, daß die traditionellen Reglementierungsformen gegenüber der Jugend weitgehend abgebaut worden sind, so weitgehend sogar, daß sich die Stimmen zu mehren beginnen, die alle Auswüchse jugendlichen Verhaltens auf die zu lasch, zu weich gewordene Erziehung zurückführen wollen. Man übersieht dabei nur, daß sich die Rigorosität in andere Bereiche verlagert hat, und daß man sie dort mit aller Konsequenz durchzuhalten versucht. So ist, um nur ein Beispiel herauszugreifen, der Arbeitstag des jungen Menschen auf das Äußere hin gesehen im allgemeinen nicht nur kürzer, sondern auch leichter geworden. Entscheidend für unsere Frage ist aber, daß zumindest in gleichem Maße die Anforderungen an die Verhaltensdisziplinierung in der Arbeit gewachsen sind. Schon der Lehrling und der junge Arbeiter werden dem hohen Sachzwang der rationalisierten Arbeit und Ausbildung unterworfen.

Hinzu kommt, daß sich die Erwachsenenwelt bei aller „Weichheit“, Unsicherheit und Unklarheit gegenüber der Jugend in einem Punkt einig zu sein scheint: zumindest in den größeren Städten herrscht so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, daß die Jugend zur Ruhe angehalten werden müsse, und sei es mit Hilfe der staatlichen Zwangsgewalt. [ . . . ] So beschneidet man dieser Jugend, wo immer es geht, rigoros jede Möglichkeit des „sinnlosen“ Sich-Austobens. Das heißt, man nimmt der großstädtischen Jugend das, was für die Jugend des Landes und der kleinen Städte noch selbstverständlich war und ist: die legitime Möglichkeit, aus den geschriebenen und ungeschriebenen Verhaltenszwängen der Gesellschaft auszubrechen.

Man bemüht sich also, alle Ventile zu verstopfen, durch die „sinnlose“ und „störende“ Energien entweichen könnten, und wundert sich dann, wenn diese Energien sich selbst einen Ausweg suchen und dabei das ganze Gehäuse reglementierten Wohlbenehmens durchlöchern. Der Halbstarken-Krawall ist seiner Substanz nach nichts anderes als der „Dummenjungenstreich“ unserer Väter oder der handgreifliche Abschluß einer Dorfkirmes. Aber der Dummenjungenstreich und der Kirmeskrawall waren vorgegebene Ventile, die ihren selbstverständlichen Platz im Sozialgefüge hatten. Man wußte um ihren Ventil-Charakter, um die Notwendigkeit und Begrenztheit ihrer Existenz, so daß man sie innerhalb dieser Grenzen nicht nur tolerierte, sondern sogar förderte, allerdings auch ebenso rigoros zurückschnitt, sobald diese Grenzen überschritten wurden. In dem jetzigen Sozialgefüge einer Großstadt dagegen, in dem das Miteinander, zumindest idealiter, nur in Bahnen verlaufen soll und kann, die einsehbaren Sachzusammenhängen entspringen, muß der Jugendliche, der sich „nur“ austoben will, mehr und mehr zu einem Fremdkörper werden.

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