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Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Gültigkeit des § 175 (1957)

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2. Eine Überschreitung der dem Gesetzgeber durch Art. 2 Abs. 1 GG gezogenen Grenzen erblickt der Beschwerdeführer vor allem auch in der Einbeziehung unzüchtiger Handlungen jeder Art, insbesondere der gegenseitigen Onanie, in die Strafbarkeit durch die Neufassung des § 175 StGB. Diese Ausdehnung des einfachen Tatbestandes hat er vorzugsweise im Auge, wenn er die Bestimmung ihres nationalsozialistischen Inhalts wegen bekämpft.

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Die Homosexualität bietet die Besonderheit, dass für eine Abgrenzung schwerer Fälle von Fällen untergeordneter Bedeutung eindeutige äußere Merkmale sich nicht darbieten. Wenn die preußische Gesetzgebung und Rechtsprechung seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts die Strafbarkeit auf beischlafähnliche Handlungen, also auf besonders derbe Begehungsformen beschränkt und onanistische Handlungen ausgenommen haben, so ist diese Abgrenzung nicht überzeugend. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts bis 1935 vermochte die Abgrenzungsschwierigkeiten ebenfalls nicht zu lösen, da auch ihr eine klare Umgrenzung des Begriffs der beischlafähnlichen Handlungen nicht gelang. In der Rechtslehre wurde dieser Mangel einer klaren Bestimmung des Tatbestandes vielfach gerügt, zumal die von der Rechtsprechung entwickelte Beschränkung zu erheblichen Beweisschwierigkeiten führte. Die Reformentwürfe haben daraus die Folgerung gezogen, für die qualifizierten Fälle von der Beschränkung auf beischlafähnliche Handlungen abzusehen und jedes „Unzuchttreiben“ oder „zur Unzucht missbrauchen lassen“, also alle Begehungsformen unter Strafe zu stellen. Unter diesen Umständen kann es nicht als ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze bezeichnet werden, wenn das Gesetz vom 28. Juni 1935 die Abgrenzung auf beischlafähnliche Handlungen auch für die einfache Homosexualität aufgab, zumal, wie das Beispiel des Beschwerdeführers zeigt, die verschiedenen Begehungsformen sich vermischen können und für das sittliche Empfinden zwischen ihnen kaum ein Unterschied besteht.

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Quelle: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Band 6, 1 BvR 550/52. Tübingen: J.C.B. Mohr, 1957, S. 389-43.

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