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Friedrich von Bodelschwingh, Vortrag in Lübeck über Fragen der Eugenik (1929)

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Euthanasie – beabsichtigtes Sterben! Es vergeht bei uns kaum ein Tag, wo nicht von Menschen, die zu uns kommen gesagt wird: Warum geht ihr nicht den einzigen vernünftigen Weg? Ich habe nur einige Gegenfragen. Zunächst vom allgemein menschlichen Standpunkt aus. Wo soll der Massstab gefunden werden! Dies Leben bleibt bestehen, und das wird ausgelöscht? Wer soll die Entscheidung darüber treffen? Der Staat oder Vater und Mutter? Und wenn die nicht eins sind: wenn Vater die eine Meinung hat und Mutter die andere? Was soll dann geschehen? Die Väter dieses Gedankens haben ausgerechnet, man würde vielleicht 3 oder 4 000 Menschen auf diese Weise beseitigen dürfen das würde allerdings eine Ersparnis von 5 Millionen bedeuten. Aber, soweit ich übersehe, würde man um dieser willen einen Apparat aufbauen müssen der wissenschaftlichen Beobachtung, der Kontrolle, um alle Missgriffe nach Möglichkeit zu vermeiden, der wenigstens nach meiner Schätzung das Doppelte oder Dreifache kosten würde. Und wenn man sein Ziel erreichen würde: Wo ist der Arzt, der sich dann dazu hergeben würde, solch einen letzten Dienst – ich will ihn nicht schärfer bezeichnen – auszuüben? Die Anstalten müssten doch fortbestehen. Aber dann würde das Vertrauen zu ihnen verfallen. Ich frage die Mütter unter Ihnen: welche Mutter würde wohl einer Anstalt noch ein Kind anvertrauen, wenn sie nicht weiss: Wann wird es vielleicht einmal auf die Liste der Todeskandidaten gesetzt? Und schlimmer noch scheint mir das zu sein: Welche Zerstörung des Gutes von der Heiligkeit des Lebens im Bewusstsein unseres Volkes würde eintreten? Wohin würde es führen, wenn wir aus Humanitätsgründen die Mörder am Leben lassen und mit aus wirtschaftlichen Gründen gleichzeitig die unschuldigen Kinder töten? Ich sehe auf diesem Wege keine Lösung.

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So viele Bilder bei uns in Bethel vorüberziehen, so viele Rätsel stehen vor uns. Gibt es Lösungen? Stehen wir schliesslich auch vor solchen Fragen mit dem Urteil: Jawohl! Natürlich! Wir töten sie nicht, aber das Leben, das ja in tausend Gestalten unter unseren Händen sich täglich abspielt, ist doch im tiefsten Grunde ein Leben, das nicht wert ist, geliebt zu werden?

Ich sage: nein! Und will dieses Nein noch mit einigen Antworten deutlich machen.

Einmal: Wir nehmen diese Kranken und Schwachen allerdings aus der Gemeinschaft der Menschen heraus, wo sie nicht mehr hineinpassen, aber wir stellen sie in eine neue Gemeinschaft des Lebens und der Arbeit hinein. Wenn sie einmal durch Bethel wandern, dann sehen Sie nicht nur diese dunklen äusseren Bilder, sondern Sie sehen da eine fröhliche miteinander arbeitende Gemeinde. Das haben wir am Anfang unserer Arbeit sofort gesehen: Es kann sich nicht nur um einen Dienst der Pflege handeln, sondern es gilt jede einzelne kleine Kraft in die Arbeit zu stellen. Gewiss, man sagt immer wieder: Es ist ja ausgeschlossen, solche schwachen, lebensunwerten Menschen in einen Produktionsprozess hineinzustellen. Wenn ich aber unsere Arbeitsgemeinschaft in Bethel ansehe, dann sage ich: Ist dieser Produktionsprozess nicht vielleicht normal, ein Miteinanderarbeiten, wo eine Hand die andere greift, eine grosse sozialistische – wenn wir einmal von allen parteipolitischen Färbungen absehen, könnte man sagen: kommunistische – Arbeitsgemeinschaft, wo jeder im Dienst des Ganzen steht und jede kleinste Kraft an irgendeiner Stelle zum Wohle der anderen eingesetzt wird?

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Quelle: Friedrich von Bodelschwingh, Vortrag in Lübeck über Fragen der Eugenik (1929), in Anneliese Hochmuth, Spurensuche: Eugenik, Sterilisation, Patientenmorde und die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1929-1945, herausgegeben von Matthias Benad in Verbindung mit Wolf Kätzner und Eberhad Warns. Bielefeld: Bethel-Verlag, 1997, S. 217-21.

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