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Karl Binding und Alfred Hoche, „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens” (1920)

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Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?*

Man braucht sie [die Frage] nur zu stellen und ein beklommenes Gefühl regt sich in Jedem, der sich gewöhnt hat, den Wert des einzelnen Lebens für den Lebensträger und für die Gesamtheit auszuschätzen. Er nimmt mit Schmerzen wahr, wie verschwenderisch wir mit dem wertvollsten, vom stärksten Lebenswillen und der größten Lebenskraft erfüllten und von ihm getragenen Leben umgehen, und welch Maß von oft ganz nutzlos vergeudeter Arbeitskraft, Geduld, Vermögensaufwendung wir nur darauf verwenden, um lebensunwerte Leben so lange zu erhalten, bis die Natur – oft so mitleidlos spät – sie der letzten Möglichkeit der Fortdauer beraubt.

Denkt man sich gleichzeitig ein Schlachtfeld bedeckt mit Tausenden toter Jugend, oder ein Bergwerk, worin schlagende Wetter Hunderte fleißiger Arbeiter verschüttet haben, und stellt man in Gedanken unsere Idioteninstitute mit ihrer Sorgfalt für ihre lebenden Insassen daneben – und man ist auf das tiefste erschüttert von diesem grellen Mißklang zwischen der Opferung des teuersten Gutes der Menschheit im größten Maßstabe auf der einen und der größten Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen auf der anderen Seite.**

Daß es lebende Menschen gibt, deren Tod für sie eine Erlösung und zugleich für die Gesellschaft und den Staat insbesondere eine Befreiung von einer Last ist, deren Tragung außer dem einen, ein Vorbild größter Selbstlosigkeit zu sein, nicht den kleinsten Nutzen stiftet, läßt sich in keiner Weise bezweifeln.

Ist dem aber so – gibt es in der Tat menschliche Leben, an deren weiterer Erhaltung jedes vernünftige Interesse dauernd geschwunden ist, – dann steht die Rechtsordnung vor der verhängnisvollen Frage, ob sie den Beruf hat, für deren unsoziale Fortdauer tätig – insbesondere auch durch vollste Verwendung des Strafschutzes – einzutreten oder unter bestimmten Voraussetzungen ihre Vernichtung freizugeben? Man kann die Frage legislatorisch auch dahin stellen: ob die energische Forterhaltung solcher Leben als Beleg für die Unangreifbarkeit des Lebens überhaupt den Vorzug verdiene, oder die Zulassung seiner alle Beteiligten erlösenden Beendigung als das kleinere Übel erscheine?

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* Jost hat ganz richtig erkannt, daß die Frage so zu stellen ist, und bemerkt richtig S. 6: Jemand könne in die Lage kommen, „in welcher das, worin er seinen Mitmenschen nützen kann, ein Minimum, das aber, was er unter seinem Leben noch zu leiden hat, ein Maximum“ ist. S. 26: „Der Wert des menschlichen Lebens kann aber nicht bloß Null, sondern auch negativ werden.“
** „Der Gesamtverlust aller kriegsführenden Mächte in diesem Weltkriege wird auf etwa 12 – 13 Millionen Tote zu berechnen sein.” Hoche, Vom Sterben, Jena 1919, S. 10. Nach einer neuerlichen Mitteilung des „Vorwärts“ hat in diesem Kriege verloren an Toten das deutsche Heer 1 728 246, die Flotte 24 112 – Verluste von einem Wert, der alle Berechnung übersteigt.

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