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„Was nicht im Baedeker steht. Kleiner Reiseführer durch die Ostzone” (1947)

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Auch in Sachsen, immer schon eines der dichtest bevölkerten Gebiete Europas, ist der Hunger Herr im Land. Früher, in den Baedeker-Zeiten, konnte die Industrie vergelten, was aus den landwirtschaftlichen Gebieten des Ostens zugeschossen werden mußte. [ . . . ] Heute hat die Demontage wichtige Teile der Fabriken weggefressen, und die Ostgebiete liefern ohnehin nicht mehr. Die Trostlosigkeit dieser Lage macht es geradezu auf natürliche Weise klar, daß die Notizen über Sachsen hier und dort guten Willen, aber wenig Gelingen verzeichnen.

Und da ist die Mark Brandenburg. Und da ist Forst, einst berühmte „Stadt der Hüte“, heute trotz aller Trümmer übervölkert, und mitten darin ein Durchgangslager nur für „Schwarzgrenzgänger“. In Guben ein Schild am Bahnhof: „Mission im Dienst der märkischen Volkssolidarität“. In Kottbus sagten Leute, daß sie, ehe die neue Ernte kam, seit Weihnachten kein Stück Kartoffel gesehen hätten und daß es auf Fleischmarken häufig kein Fleisch, sondern Quark gäbe. Und schließlich Frankfurt an der Oder, die große Station der Transporte aus Rußland, wo durch eine „Päckchen-Aktion des Westens“ überhaupt erst die Möglichkeit gegeben ist, den Heimkehrern zu helfen. Pakete müssen sein! Denn was nützen dem Heimkehrer die 50 Mark, die ihm im Durchgangslager Cronenfelde ausgezahlt werden? Alle Länder der Ostzone haben in Frankfurt ihre Beratungsstellen. Aber Beratungsstellen für Heimkehrer der Westzonen fehlen. Notiz: „Die heimkehrenden Kriegsgefangenen befinden sich jetzt in besserem Gesundheitszustand als früher. Erschütternd jedoch ist nach wie vor der Anblick der halbverhungerten Frauen, die aus russischen Zwangsarbeitslagern zurückkehren.“ [ . . . ]

Am schlimmsten aber sieht es, den Notizen zufolge, im Oderbruch aus. Im letzten Kriegsjahr schwer betroffen, erhielt dies Gebiet durch die Dammbruchkatastrophe im vergangenen Jahr den Todesstoß. Die meisten Ortschaften um Seelow etwa sind zu 80 v. H. zerstört. Unbestellte Felder, soweit man blickt; Franzosenkraut, Disteln, Schilf. Bauernhöfe, die 200 oder 300 Morgen messen und doch nicht ein Pferd besitzen. Und viele Bauern haben nicht eine Kuh. Und dennoch lastet – entgegen ursprünglichen Ankündigungen – noch ein „Ablieferungssoll“ auf den Bauern, die, wenn sie pflügen, oft genug sich selbst vor den Pflug spannen müssen. Eine furchtbare Hungerkatastrophe vor Augen, stöhnen die Bauern über das „Soll“, dieses „Meisterstück der Bürokratie“. Das alte Schwedt, die märkische Tabakstadt, ist so getroffen, daß die Bewohner nur noch in Kellern hausen: von 20 000 Bürgern der Stadt waren nur 6500 noch geblieben. Tuberkulose und ein – „Tabak-Soll“, so daß es ihnen unmöglich schien, genug Kartoffeln anzubauen. Alles war anders geworden seit den Baedeker-Tagen. Nur die Oder war noch da. Man konnte hinübersehen zur anderen Seite: kein Acker mehr, kein Feld; nur Unkraut, Gestrüpp. [ . . . ]





Quelle: Jan Molitor, „Was nicht im Baedeker steht. Kleiner Reiseführer durch die Ostzone“, Die Zeit, 20. November 1947; abgedruckt in Christoph Kleßmann, Georg Wagner, Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945-1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte. München: C.H. Beck, 1993, S. 62-64.

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