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Emil Fackenheim über seine jüdische Erziehung in den 1920er Jahren (Rückblick)

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Einmal verfasste ich als Pessach-Geschenk für meinen Vater einen Aufsatz, in dem Gott “das Ende überdenkt”. Bereits damals bewegte mich weniger die Frömmigkeit meines Vaters an sich als ihre Einfachheit: Er konnte ausreichend Hebräisch, um die Gebete zu lesen, aber zu wenig, um sie zu verstehen. Was mich nachhaltig beeindruckte war, was für Schätze sie für denjenigen bereithalten, der sie versteht.

Die Frömmigkeit meiner Mutter war anders. Kantor Kaufmanns Hingabe erreichte während der Gottesdienste am Sabbatabend ihren Höhepunkt, wenn er das Haschkiwenu anstimmte [ . . . ] Das war das Lieblingsgebet meiner Mutter, zumindest vermutete ich das immer. Ich drücke das so aus, weil sie so viel von ihrer Frömmigkeit erkennen ließ, aber eben nicht viel mehr. Ihr Glaube war nicht einfach. Zu ihrer Zeit gingen Frauen noch nicht an die Universität, aber sie hätte mit großer Selbstverständlichkeit in jedes Philosophie- oder Literaturseminar gepasst. [ . . . ] Meine Mutter rang mit dem Judentum, mit Deutschland, mit der Moderne, mit all diesen Dingen, die der Erste Weltkrieg verändert hatte. Mein Vater besaß eine Erstausgabe von Kants Kritik (die ich geerbt habe), aber es bestand nie der geringste Zweifel, dass sie der Denker in der Familie war. Die Bücher meiner Mutter [ . . . ] sind sorgfältig datiert. Das früheste sind Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit, mit dem Datum 29. November 1917. Das nächste ist Schopenhauers Von der Nichtigkeit des Daseins, mit Datum vom 1. Dezember 1917. Danach kommt Schopenhauers Opus Magnum, Die Welt als Wille und Vorstellung, mit Datum vom 16. Dezember 1917. Dieser permanent deprimierte und deprimierende Philosoph muss in ihr eine Saite zum Klingen gebracht haben, und sie selbst muss wohl schwermütig gewesen sein, was kein Wunder ist: Ihr Vater war jung gestorben, ihr einziger Bruder, Willy, war im Krieg getötet worden. Während mein Vater vermutlich an der Front war, muss sie sich die Schopenhauer-Bände – die keine Widmung trugen – selbst gekauft haben. Während dieser Zeit war sie, abgesehen von dem unvermeidlichen Hausmädchen, allein mit dem fünfjährigen Alexander, mir mit meinen anderthalb Jahren und schwanger mit Wolfgang. Die Nietzsche-Ausgabe, datiert vom 30. September 1920 (ihr Geburtstag) war ein Geschenk meines Vaters, und den Rosenzweig-Band hatte sie wahrscheinlich bei einem Besuch in Kassel erworben. Am aufschlussreichsten sind jedoch die Bücher von Spengler. Der erste Band, den sie zu Ostern 1920 kaufte, sieht gelesen, fast zerlesen aus, so sehr, dass sie ihn neu binden lassen musste. Der zweite Band, der im Juni 1922 erworben wurde, sieht im Unterschied dazu nahezu ungelesen aus. 1920 war die politische Lage immer noch unruhig. Aber 1923 war Stresemann schon fast im Amt und der Frieden schien gesichert: Vielleicht war der Westen doch noch nicht “am Untergehen”. Ganz zu schweigen davon, dass mein Vater in seinen Beruf zurückgekehrt war, den er immer geliebt hatte. Alexander war zehn Jahre alt, ich selbst sechs, Wolfgang vier – wir waren eine glückliche Familie.



Quelle: Emil L. Fackenheim, An Epitaph for German Judaism, From Halle to Jerusalem. Madison: University of Wisconsin Press, 2007, S. 13-14, 18-19.

Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche: Katharina Böhmer

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