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Thomas Mann, „Zur jüdischen Frage” (1921)

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Ein Volk, das Unrecht leidet, sollte in seinem Innern mit der Gerechtigkeit auf besonders guten Fuß zu kommen suchen. Aber in dem antisemitischen Treiben und Beschuldigen ist keine Spur von Gerechtigkeit. Wer hat im Kriege und nachher bräver gewuchert und gescheffelt als der stämmige Bauersmann? Waren etwa und sind die Greuel der Konjunktur-Ausbeutung, der volksverräterischen Schieberei und Bereicherungswut ein Vorrecht der Artfremdheit? Man sollte sich schämen! Wer will den Ursprung des Weltelends datieren, wer sagen, wo die Sackgasse begann, an deren dunklem Ende wir tasten und wimmern? Die religiöse Spaltung Europas, Revolution, Demokratie, Nationalismus, Internationalismus, Militarismus, Dampfmaschine, Industrie, Fortschritt, Kapitalismus, Sozialismus, Materialismus, Imperialismus, — die Juden waren nur Weggenossen, Mitschuldige, Mitopfer . . . Nein, sie waren des öfteren Führer, dank ihren Geistesgaben, dank aber namentlich dem Umstande, daß sie das Neue immer und unbedingt für gut halten mußten, da ein Neues, die Revolution, ihnen Freiheit gebracht hatte. Die Geschichte vom Sündenbock ist eine alte tiefsinnige Geschichte, auf welche die Deutschen sich verstehen sollten. Trägt man der Welt Sünde, so zeugt es von wenig Stolz, partout wieder einen anderen in eine weitere Wüste schicken zu wollen.

Die Juden haben, wie Goethe sagt, als Volk »nie viel getaugt«, was schon die liebe Not beweist, die ihre Propheten beständig mit ihnen hatten. Ihr typischer Charakter hat seine Unannehmlichkeiten, er hat sogar seine Gefährlichkeit, — welcher Volkscharakter wiese übrigens nicht dergleichen auf? Jedes einzelne der europäischen Völker ist auf seine besondere Art dem Erdteil zum Verhängnis geworden. Die Juden aber zeichnet eines aus, was sie, man muß es sagen, unter Deutschen »artfremder erscheinen läßt, als ihre Nase: Es ist ihre eingeborene Liebe zum Geist, — diese Liebe, die sie gewiß nicht selten zu Führern auf dem Sündenwege der Menschheit gemacht hat, die ihnen aber die nicht Gang und gäben, die Leidend-Hochbedürftigen, die Künstler, die Dichter und Schriftsteller, immer zu Schuldnern und Freunden machen wird. Von Dostojewski sagt Strachow, sein Biograph: „Denn er liebte die Literatur, und diese Liebe war der wichtigste Grund, weshalb er nicht sogleich zu den Slawophilen überging. Er empfand doch lebhaft die Feindseligkeit, mit der sich dieselben von jeher ihren Prinzipien gemäß zur zeitgenössischen Literatur verhielten.“ Muß Konservativismus immer die Sache der Höhlenmenschen, der geistfeindlichen Roheit sein? Oft denkt man, es wäre nicht nötig. In mir ist vieles, was mich zum erhaltenden Deutschtum zieht. . . . Ihre Liebe zum Geist, ihre habituelle Freundwilligkeit für alles Zarte, Kühne, Feine und Freie wird mich den Juden immer verbinden.

Da habe ich wieder einmal „Rede und Antwort“ gestanden.

Darf ich mich setzen?



Quelle: Thomas Mann, „Zur jüdischen Frage“ (1921), Essays, Band 2, herausgegeben von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1993, S. 85-95.

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