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Rainer Maria Rilke, Brief an Clara Westhoff Rilke (7. November 1918)

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gewöhnlichen Leuten drüben, gleich wird Friede sein.“ Ich wiederhole das lange nicht so gut, wie er es ausdrückte, plötzlich als er das gesagt hatte, stieg ihm eine Schwierigkeit auf, und mit rührender Gebärde, nach Weber, Quidde und den anderen Professoren, die neben ihm auf dem Podium standen, fuhr er fort: „Hier, die Herrn Professoren, können französisch, die werden uns helfen, daß wirs richtig sagen, wie wirs meinen ...“ Solche Momente sind wunderbar, und wie hat man sie gerade in Deutschland entbehren müssen, wo nur die Aufbegehrung zu Worte kam, oder die Unterwerfung, die in ihrer Art auch nur ein Machtanteil der Untergebenen war. [ . . . ]

Ihr seid noch in Fischerhude? Ruth auch? Bleiben die Schulen noch geschlossen?

Alles Gute und Liebe Euer Rainer Maria

(Nachschrift, am 8. 11. 1918)

Freitag früh Wir haben eine merkwürdige Nacht hinter uns. Nun ist auch hier ein Soldaten-, Bauern- und Arbeiterrat eingesetzt, mit Kurt Eisner als erstem Vorsitzenden. Die ganze erste Seite der Münchner Neuesten nimmt eine von ihm ausgegebene Verfügung ein, durch die die bayrische Republik erklärt, Ruhe und Sicherheit den Einwohnern zugesagt wird. Dem nächtlichen Unternehmen ging eine Versammlung auf der Theresienwiese voran, die von einhundertzwanzigtausend Menschen besucht war. Nun bleibt nur zu hoffen, daß dieses ungewohnte Aufgestandensein in den Köpfen Besinnung erzeuge und nicht darüber hinaus die verhängnisvolle Berauschung. Bis jetzt scheint alles ruhig und man kann nicht anders als zugeben, daß die Zeit recht hat, wenn sie große Schritte zu machen versucht.




Quelle: Rainer Maria Rilke, „ . . . mit dem großen freien Atem“, in Weimar, Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte 1918-1933, herausgegeben von Heinrich August Winkler und Alexander Cammann. München: C.H. Beck, 1997, S. 44-46.

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