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Martin Luthers „Turmerlebnis” (1545)

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Wie sehr ich vorher die Vokabel »Gerechtigkeit Gottes« gehaßt hatte, so pries ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort. So ist mir diese Paulus-Stelle wahrhaftig das Tor zum Paradies gewesen. Später las ich Augustins Schrift Über den Geist und den Buchstaben. In ihr bin ich wider Erwarten darauf gestoßen, daß auch er die Gerechtigkeit Gottes ähnlich erklärt: als die, mit der Gott uns bekleidet, indem er uns rechtfertigt. Und obwohl dies noch unvollkommen gesagt ist und in bezug auf die Zurechnung der Gerechtigkeit nicht klar alles erläutert, gefiel es mir doch, daß dort als Gerechtigkeit Gottes die gelehrt wird, durch die wir gerechtfertigt werden.

Durch solche Erwägungen besser gerüstet, begann ich den Psalter zum zweiten Mal auszulegen. Und diese Arbeit wäre zu einem großen Kommentar angewachsen, wenn ich nicht erneut durch den Reichstag Kaiser Karls v. im darauffolgenden Jahr nach Worms vorgeladen worden und so gezwungen gewesen wäre, das begonnene Werk liegen zu lassen.

Dies erzähle ich darum, lieber Leser, damit du, wenn du meine kleinen Werklein liest, dessen eingedenk bist, daß ich, wie oben gesagt, einer von denen bin, die, wie es Augustin von sich schreibt, beim Schreiben und Lehren ihre Fortschritte gemacht haben. Also nicht einer von denen, die aus dem Nichts mit einem Schlag den Gipfel erstürmen, während sie doch nichts sind, ohne Mühsal, ohne Anfechtung, ohne Erfahrung, sondern auf einen einzigen Blick in die Schrift hin deren ganzen Geist ausgeschöpft haben.

Bis hierhin zum Jahre 1520/21 nahm der Ablaßstreit seinen Verlauf. Darauf folgen dann die Auseinandersetzungen mit den Sakramentierern und Wiedertäufern, worüber ich in weiteren Bänden, falls ich noch lebe, die Vorrede schreiben werde.

Gehab dich wohl in dem Herrn, lieber Leser, und bete für das Wachstum des Wortes wider den Satan; denn er ist mächtig und böse, ja nun auch ganz rasend vor Grimm. Er weiß ja, daß er nur wenig Zeit hat und das Reich seines Papstes sich in Gefahr befindet. Gott aber stärke in uns, was er gewirkt hat, und vollende sein Werk, das er in uns angefangen hat, zu seiner Ehre. Amen. Am 5. März des Jahres 1545.



Quelle der deutschen Übersetzung aus dem Lateinischen: Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Band 1, S. 13-25.
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1995.

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