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Martin Luthers „Turmerlebnis” (1545)

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Man hielt Karl von Miltitz wohl für ziemlich unnütz und ebenso auch seinen Plan. Doch meines Erachtens verhält es sich so: Hätten der Mainzer* von Anfang an, als er durch mich gewarnt wurde, und schließlich auch der Papst, ehe er mich unverhört verdammte und mit seinen Bullen wütete, den Plan gefaßt, auf den dann Karl spät genug kam, und hätten sie das unsinnige Treiben Tetzels sofort in die Schranken gewiesen, dann hätte sich die Sache nicht zu einem so großen Tumult ausgeweitet. Die ganze Schuld liegt beim Mainzer. Seine hinterlistige Schläue hat ihn betrogen, mit der er beides zugleich erreichen wollte: meine Lehre unterdrücken und sein durch den Ablaß erworbenes Geld retten. Jetzt werden vergeblich Pläne geschmiedet, ist man zu vergeblichen Mühen gezwungen. Der Herr ist erwacht und steht bereit, die Völker zu richten. Auch wenn sie uns töten könnten, hätten sie dennoch nicht, was sie wollen; ja sie hätten es dann noch weniger, als sie es haben, solange wir noch leben und unversehrt sind. Manche von denen, deren Nase nicht gänzlich verstopft ist, wittern das schon selber deutlich genug.

Inzwischen war ich in diesem Jahr bereits wieder zum Psalter zurückgekehrt, um ihn ein zweites Mal auszulegen, im Vertrauen darauf, daß ich jetzt dafür geübter wäre, nachdem ich die Briefe des Paulus an die Römer und Galater und den an die Hebräer in Vorlesungen behandelt hatte. Ein ganz ungewöhnlich brennendes Verlangen hatte mich gepackt, Paulus im Römerbrief zu verstehen; aber nicht Kaltherzigkeit hatte mir bis dahin im Wege gestanden, sondern ein einziges Wort, das im ersten Kapitel steht: »Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart.« (Röm. 1,17) Denn ich haßte diese Vokabel »Gerechtigkeit Gottes«, die ich durch die übliche Verwendung bei allen Lehrern gelehrt war philosophisch zu verstehen von der sogenannten formalen oder aktiven Gerechtigkeit, mittels derer Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft.

Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch lebte, vor Gott mich als Sünder von unruhigstem Gewissen fühlte und mich nicht darauf verlassen konnte, daß ich durch meine Genugtuung versöhnt sei, liebte nicht, nein, haßte den gerechten und die Sünder strafenden Gott und war im stillen, wenn nicht mit Lästerung, so doch allerdings mit ungeheurem Murren empört über Gott: Als ob es wahrhaftig damit nicht genug sei, daß die elenden und infolge der Erbsünde auf ewig verlorenen Sünder mit lauter Unheil zu Boden geworfen sind durch das Gesetz der zehn Gebote, vielmehr Gott durch das Evangelium zum Schmerz noch Schmerz hinzufüge und auch durch das Evangelium uns mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn bedrohe. So raste ich wilden und wirren Gewissens; dennoch klopfte ich beharrlich an eben dieser Stelle bei Paulus an mit glühend heißem Durst, zu erfahren, was St. Paulus wolle.

Bis ich, dank Gottes Erbarmen, unablässig Tag und Nacht darüber nachdenkend, auf den Zusammenhang der Worte aufmerksam wurde, nämlich: »Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben.« Da begann ich, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als die, durch die als durch Gottes Geschenk der Gerechte lebt, nämlich aus Glauben, und daß dies der Sinn sei: Durch das Evangelium werde Gottes Gerechtigkeit offenbart, nämlich die passive, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben ist: »Der Gerechte lebt aus Glauben.« Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sofort die ganze Schrift ein anderes Gesicht. Ich durchlief dann die Schrift nach dem Gedächtnis und sammelte entsprechende Vorkommen auch bei anderen Vokabeln: z. B. Werk Gottes, das heißt: was Gott in uns wirkt; Kraft Gottes, durch die er uns kräftig macht, Weisheit Gottes, durch die er uns weise macht, Stärke Gottes, Heil Gottes, Herrlichkeit Gottes.



* Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Mainz

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