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Dem Beispiel Christi folgen – Thomas von Kempen, Die Nachfolge Christi (ca. 1418)

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Das 5. Hauptstück.
Habe Acht auf dich selbst.

Wir dürfen uns selbst nicht zu viel trauen, denn gar oft fehlt uns die Gnade und der rechte Sinn.

Nur ein kleines Fünklein Licht ist in uns, und dies verlieren wir oft schnell durch unsere Nachlässigkeit (weil wir es nicht sorgfältig pflegen).

Oft bemerken wir es nicht einmal, daß wir in unserm Innern so gar blind sind.

Oft handeln wir schlecht, und machen die schlechte That noch schlechter, indem wir sie entschuldigen.

Oft ist es blos Leidenschaft, was uns inwendig so sehr treibt, und wir halten es für göttlichen Eifer.

Kleine Fehler strafen wir an Andern sehr scharf, an uns selbst übersehen wir große Laster.

Nur zu schnell fühlen wir, was wir von Andern zu leiden haben, und wissen es sehr hoch anzurechnen; was aber Andere von uns zu leiden haben, bringen wir gar nicht in Anschlag.

Wer auf sich selbst Acht hat und seine Handlungen immer auf der Wage der Gerechtigkeit abwiegt, der wird weder Zeit noch Ursache finden, Andere hart zu richten.

2. Ein innerlicher Mensch setzt die Sorge für sich selbst allen andern Sorgen vor; und wer auf sich selbst ein wachsames Auge hat, der kann leicht von Andern schweigen.

Du wirst nie ein innerlicher, gottseliger Mensch werden, wenn du nicht von Andern schweigen lernest, und dein Auge ganz besonders auf dich selber richtest.

Wenn du nur dich selbst und Gott allein im Auge behältst, dann wird das, was du außer dir wahrnimmst, keinen großen Eindruck auf dich machen.

Wo bist du denn, wenn du nicht in dir — dir selbst nicht gegenwärtig bist?

Und wenn du nun Alles durchlaufen, und dich selbst darüber vernachlässigt hast, was hilft es dir?

Wenn du den Frieden und die wahre Vereinigung (mit Gott) erlangen willst, mußt du Alles, was dich nicht angeht, fahren lassen, Gott allein im Auge behalten, und dich selbst immer bewachen.

3. Du wirst sehr zunehmen, wenn du dich von allen zeitlichen Sorgen scheidest und frei hältst.

Du wirst aber sehr abnehmen und zurückkommen, wenn dir etwas Zeitliches am Herzen liegt.

Nichts sei in deinem Auge erhaben, nichts groß, nichts anziehend, nichts lieblich, als Gott allein, und was aus Gott ist.

Eitel sei dir Alles, was dir immer irgend ein Geschöpf zum Troste darreicht.

Eine Gott liebende Seele verschmäht Alles, um Gott ganz allein zu besitzen.

Gott, der Ewige und Unermeßliche, der Alleserfüllende, ist allein der wahre Trost der Seele, allein die wahre Freude des Lebens.

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