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Die Lehre einer praktischen Spiritualität – Predigt von Johannes Tauler (14. Jahrhundert, veröffentlicht 1515/16)

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Von den zwein ersten minnen wellen wir ein wening sprechen.

Bi der wunden minne nemen wir ein gelichnisse. Der verwunt ist von minnen, der tůt recht als ein kǒfman der ein schif wil us fůren umbe gewin: so ist recht sin herze als es verwunt si von begerunge, das er vil gesamene aller leige; so respet er hie, so samenet er do, das sin schif vol werde. Also tůt der verwunte mensche: er samenet und zúhet ze samene alle bilde und gedenke und ůbunge was er mag, dem minner ze liebe den er minnet. Denne als das schif wol geladen ist, so stosset er von dem lande. Noch ist er des schiffes wol gewaltig ze fůrende engegen dem sturme. Also ist der verwundeten minne: die wirffet ir schif in den sturm der gotheit und vert do herlichen vor und spilt do mit nach irem gunste und willen und wirfet ir růder in das mer das grundelos ist, und ie me si in sich zúhet der gǒtlichen usflússe, ie me si witer wirt, und ir enphenglicheit die fúllet er alle zůmole, und die erfúllunge die machet ein núwe enphenglicheit und núwe wite, und machet núwe wunden der minne.

Her nach so snidet denne der herre das seil des schiffes en zwei und lat das schif denne en gegen dem sturm rúschen: so ist da weder rieme noch růder die das schif múgen uf enthalten. So enist der mensche nút sin selbes me gewaltig: das ist die gevangen minne.

Denne geschicht ime als einem ritter der in einem strite sere verwunt wirt. Noch denne entrinnet er wol gewelteklich; sunder wirt er gevangen, so wirt er sin selbes ungeweltig; so enist er weder gedenke noch werke geweltig; denne er můs sich dem minner und der minne gar lossen.

Von diser minne wer noch vil ze sagende. Es mag geschehen her nach.

Das wir also lossent alle cisternen, das uns das wasser der woren minne werde in gegossen, des helf uns die ewige minne. Amen.



Quelle: Johannes Tauler, Die Predigten Taulers, herausgegeben von Ferdinand Vetter. Berlin, 1910, S. 285-90.

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