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Bundespräsident Roman Herzog ruft zu einer Reform des deutschen Bildungssystems auf (5. November 1997)

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Ich wünsche mir schließlich — sechstens — ein Bildungssystem, das mit der Ressource Zeit vernünftig umgeht.

Personal, staatliches Geld und Ausstattung werden in Zukunft gewiß bei allen Konzepten wichtige Kriterien sein. Die Ressource, um die es aber vor allem geht, ist die Zeit: Die Zeit der Hochschullehrer, die durch Überlastquoten und zu viel Bürokratie an dem gehindert werden, wofür sie zumindest auch da sind, nämlich an der Forschung und der Transmission ihrer Forschungsergebnisse. Und die Zeit der Studenten, die in ihren besten Jahren daran gehindert werden, Gelerntes so rasch anzuwenden, daß sie aus ersten Erfolgen fundiertes Selbstvertrauen gewinnen können. Von der Zeit, die Deutschland im Verhältnis zu seinen Konkurrenten in der Welt verschwendet, will ich noch nicht einmal reden.

Noch einmal: Die Ausbildungsdauer ist bei uns überall zu lang. Daher sind alle Seiten gefordert, mit der Zeitverschwendung Schluß zu machen. Schon im Vorschulalter liegen Begabungen brach, weil viele Kinder in den prägendsten Lebensjahren nicht hinreichend gefördert werden. Wir leisten uns dreizehn Schuljahre für die Vermittlung von Wissen, das andere Länder in zwölf Jahren unterrichten. Wir vergeuden Zeit in unnützen Warteschleifen, weil Schulabschluß und Studienbeginn vielfach nicht zeitlich koordiniert sind. Wir verschwenden Zeit mit überfüllten Lehrplänen an den Universitäten. Das Band, das uns alle verbindet, ist doch das Bewußtsein, daß unsere Lebenszeit eng begrenzt ist. Warum versuchen wir dann nicht entschlossen und gemeinsam, allen Beteiligten wieder Zeit zu verschaffen und diese auch optimal zu nutzen: Zeit ist das wichtigste, was der Mensch zum Reifen, Lernen, Forschen und „Umsetzen” der Forschungsergebnisse braucht. Sie ist die Ressource, die alles entscheidet — so wichtig mehr Geld und mehr Personal sein mögen.

Ich sage nicht, daß wir jetzt mit einem Schritt den großen Wurf landen müssen, der bis weit ins 21. Jahrhundert hinein Bestand hat. Wir brauchen — eher im Gegenteil — eine Fähigkeit zur ständigen Weiterentwicklung. Schon unsere Großeltern wußten: Wer rastet, der rostet. Das gilt erst recht dort, wo stündlich Neues entdeckt wird. Wir folgen bisher viel zu sehr dem Modell, zuerst viel Reformdruck aufzustauen, der sich dann im Erdbeben einer Großreform entlädt, um anschließend wieder innovationsunwillig jeder Neuerung zu trotzen. Künftig müssen wir die Fortentwicklung des Bildungssystems zur Daueraufgabe machen. Unser Bildungssystem war einst ein Modell für die ganze Welt. Aber es muß weiterentwickelt werden. Das Bessere ist bekanntlich der Feind des Guten. Ziehen wir daraus die Konsequenzen. Machen wir es zu einem Modell für das 21. Jahrhundert!

Schaffen wir ein Bildungswesen, das Leistung fördert, keinen ausschließt, Freude am Lernen vermittelt und selbst als lernendes System kreativ und entwicklungsfähig ist. Setzen wir neue Kräfte frei, indem wir bürokratische Fesseln sprengen. Entlassen wir unser Bildungssystem in die Freiheit.



Quelle: Roman Herzog, „Aufbruch in der Bildungspolitik“, Bulletin [Presse- und Informationsamt der Bundesregierung] Nr. 87, S. 1001-07, 5. November 1995.

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